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Die bürgerliche Familie in Zehlendorf braucht immer häufiger Hilfe. Ob die Simpsons da helfen können? Vielleicht mit einer Portion Gelassenheit.

© und TM Twentieth Century Fox Film Corporation

Wohlstandsverwahrlosung in Zehlendorf nimmt zu: Immer mehr Eltern in bürgerlichen Kiezen überfordert

Familiäre Konflikte, Erziehungsprobleme, gesundheitliche Belastungen - das Jugendamt in Steglitz-Zehlendorf hat festgestellt, dass vor allem in den bürgerlichen Gegenden, in denen die sozialen Bedingungen gut sind, Familien immer häufiger Hilfe brauchen.

In Steglitz-Zehlendorf sind auch in den sozial gering oder gar nicht belasteten Gegenden immer mehr Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Für den gesamten Bezirk gilt, dass der staatlich geregelte Anspruch auf „Hilfen zur Erziehung“ durch die Jugendämter immer häufiger in Anspruch genommen wird. Bei „Hilfen zur Erziehung durch die Jugendhilfe" werden verschieden individuelle oder therapeutische Maßnahmen zusammengefasst. Die Leistungen können sowohl ambulant, teilstationär oder stationär erbracht werden.

Bereits im Jahr 2011 hat das Jugendamt im Bezirk eine genaue Analyse der Situation veröffentlicht. An den damaligen Befunden, die auf die Jahre 2005 bis 2010 zielten, hat sich aber, heißt es im Jugendamt, nichts grundsätzlich positiv geändert. Der Bedarf an Hilfen ist tendenziell eher steigend.

Damals kam der Leiter der Jugendhilfeplanung, der Soziologe und Sozialpädagoge Reinhard Hoffmann (60), zu dem Schluss: „Der Hilfebedarf ist in allen sozialen Schichten erkennbar gestiegen, gerade auch in den sozial eher unbelasteten Gebieten. Die Lebensumstände der Familien verändern sich offensichtlich dynamisch. Der Hilfebedarf ist nicht mehr allein mit sozialstrukturellen Ansätzen zu erklären.“

Und weiter: „Überforderung der Eltern, psychische Gesundheit und eine Zunahme sozialer Probleme sind die thematisch herausragenden Veränderungen der letzten Jahre. Alleinerziehende erscheinen in diesem Zusammenhang nicht als ‚die’ Problemgruppe, sondern als die Familienform mit den geringeren zeitlichen, personalen, materiellen und psychischen Ressourcen.“

Materieller Wohlstand ersetzt nicht fehlende Zuwendung

Von 2005 bis 2010 ist die Anzahl der neu begonnenen Hilfen um 60 Prozent gestiegen, insgesamt ist die Zahl aller Hilfen zusammen genommen um 30 Prozent gewachsen. Im Bericht heißt es: „Tendenziell steigt der Bestand der Hilfen, da die Zahl der jährlich neuen Hilfen seit 2007 höher ist als die Zahl der Beendigungen.“ Bei den Kindern unter sechs Jahren hat sich die Zahl der neuen Hilfen seit 2005 annähernd verdreifacht. Daneben steigt der Hilfebedarf vor allem bei Kindern im Grundschulalter.

Hoffmann, der seit 1994 in der Jugendhilfeplanung arbeitet und die Entwicklung sehr gut beurteilen kann, weist auf eine zweiseitige Zuspitzung der Problemlagen hin und sagt: „Auf der einen Seite werden Familien mit strukturellen Belastungen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder als Alleinerziehende schneller sozial abgekoppelt. Auf der anderen Seite der Skala müssen Familien mit hohen Gelingenserwartungen an Erziehung sehen, dass materieller Wohlstand nicht liebevolle Zuwendung und Zeit für Kinder ersetzt.“

Licht und Schatten. Kinder und Eltern haben es oft nicht so einfach miteinander, meistens sind die Erwartungshaltungen der Eltern Auslöser für Konflikte.
Licht und Schatten. Kinder und Eltern haben es oft nicht so einfach miteinander, meistens sind die Erwartungshaltungen der Eltern Auslöser für Konflikte.

© dpa

Offensichtlich gibt es in Zehlendorf in den bürgerlichen Kiezen zunehmend das Problem der „Wohlstandsverwahrlosung. Hoffmann formuliert es so: „Die Eltern in den bürgerlichen Gegenden haben wenig Zeit, aber sehr hohe Erwartungen an die eigenen Kinder. Wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden, werden hektisch Konsequenzen gezogen und Panik bricht aus."

Hoffmann sagt zudem: „Generell steht berufstätigen Eltern wenig Zeit für Familie zur Verfügung. Das gilt für Leitungspositionen genauso wie für die Beschäftigten eines Supermarkts mit Öffnungszeiten bis 21 Uhr. An den sozialstrukturellen Polen beobachten wir Zuspitzungen, das gilt für Armut und auch Wohlstandsverwahrlosung ist ein wachsendes Problem."

Interessant an der Tiefenanalyse des Jugendamts ist die Tatsache, dass viele dieser Probleme, für die dann das Jugendamt um Hilfe gebeten wird, keine materiellen Probleme sind. Gerade in den bürgerlichen Kiezen ist die Wachstumsrate an innerfamiliären Konflikten enorm.

Die Jungen dominieren bei den Hilfen

Wenn man den sozialstrukturellen Kontext aus dem Stadtmonitoring des Senats berücksichtigt, dann ist Steglitz-Zehlendorf wie alle Bezirke in vier Gruppen eingeteilt. Von 1 gering belastet bis 4 eher hoch belastet, Gegenden, die mit 4 klassifiziert sind, wie etwa Zehlendorf Süd oder die Thermometersiedlung, haben im Vergleich zu den anderen überproportional mehr soziale Belastungen bei weniger Einwohnern zu tragen.

Steglitz-Zehlendorf hat in Gruppe 1 laut des berlinweiten Stadtmonitorings 20047 Einwohner, Gruppe 2 rund 14 400 Einwohner, die dritte Gruppe 11 683 Einwohner und die vierte 6292. Die Zunahme der Zahl der laufenden Hilfen zur Erziehung sind in Gruppe 1 von 2005 bis 2010 um 43 Prozent gestiegen, in Gruppe zwei um  36 Prozent, in Gruppe 3 um 23 Prozent und in Gruppe 4 um 22 Prozent.

Eltern in Zehlendorf fühlen sich immer häufiger von der Erziehung überfordert, vor allem in den bürgerlichen Gegenden.
Eltern in Zehlendorf fühlen sich immer häufiger von der Erziehung überfordert, vor allem in den bürgerlichen Gegenden.

© dpa

Zu den gering belasteten Gebieten gehören laut Senatsbericht Fichtenberg, Krumme Lanke, Thielallee, Dahlem, Nikolassee, Fischtal, Wannsee, Fischerhüttenstraße, Hüttenweg, Düppel, Goerzwerke, Teltower Damm, Schweizer Viertel, Lichterfelde-West.

Zur Gruppe zwei gehören: Markelstraße, Oberhofer Platz, Lankwitz Süd, Komponistenviertel Lankwitz, Schütte-Lanz-Straße, Königsberger Straße, Berlepschstraße, Zehlendorf-Eiche, Botanischer Garten, Zehlendorf-Mitte, Augustaplatz.

Zur Gruppe 3: Stadtpark, Schloßstraße, Südende, Bergstr., Mittelstr., Feuerbachstr., Munsterdamm, Alt-Lankwitz, Lichterfelde-Süd, Hindenburgdamm.

Zur Gruppe 4: Bismarckstr., Kaiser-Wilhelm-Straße, Lankwitz-Kirche, Gemeindepark Lankwitz, Thermometersiedlung, Zehlendorf-Süd.

„Bei den neu eingeleiteten Hilfen verdoppelt sich seit 2005 die Zahl im ersten Viertel, während der Anstieg im letzten Viertel mit 32 Prozent am geringsten ausfällt“, heißt es im Bericht. In absoluten Zahlen haben 2005 im Bezirk 131 Fälle aus Gruppe 1 Hilfe beansprucht, 2010 waren es 262. Weiter heißt es: „Bei den Hilfen zur Erziehung überwiegen durchgängig die Jungen.“

Bei den Ursachen für den Bedarf an Hilfen liegen familiäre Konflikte und Überforderung der Eltern bei allen Gruppen an der Spitze, gefolgt von Gesundheit, Trennung, individuelle Notlagen und soziale Problemlagen. Allerdings ist auffällig, dass die familiären Konflikte und die Überforderung offensichtlich überproportional zu den anderen Gründen wachsen.

Schnell wird mit Anwälten gedroht

Einer, der diese Notlagen auch der bürgerlichen Familien kennt, ist Winfried Glück vom Verein Zephir, der Sozialarbeit in unterschiedlichen Bereichen in Zehlendorf macht. Der promovierte Sozialwissenschaftler sagt, dass sich zum Beispiel Abstiegsängste der bürgerlichen Klientel auf verschiedene Weise auf die Kinder auswirke: „So bedrohen veränderte sozialökonomische Entwicklungen die Qualität der sozialen Beziehungen in Familien. Werden etwa Erwartungen nach steigenden Einkommen, wachsenden Sozialprestige nicht mehr erfüllt, kann dies zu zwischenmenschlichen Spannungen der Erwachsenen führen, die sich krisenhaft entwickelt und sich in Trennungen und Scheidungen ausdrücken.“

Reinhard Hoffmann von der Jugendhilfeplanung in Steglitz-Zehlendorf. Der 60-Jährige ist Diplom-Soziologe und Diplom-Pädagoge.
Reinhard Hoffmann von der Jugendhilfeplanung in Steglitz-Zehlendorf. Der 60-Jährige ist Diplom-Soziologe und Diplom-Pädagoge.

© privat

Hoffmann und Glück beobachten, dass immer mehr Eltern aus den bürgerlichen Milieus aufgrund dieser diffusen Ängste die Erwartungen und Ansprüche an ihre Kinder nochmals steigern. Es werden dann Coaches für Kinder engagiert, damit diese die an sie gestellten Erwartungen aushalten und ihnen entsprechen.

Beide Experten kennen auch genügend Fälle, in denen sich hilflose Eltern immer öfter in Kitas und Schulen beschweren. Die enorme „Ich“-Bezogenheit der Eltern habe hier extrem zugenommen, Direktoren von Grundschulen oder Oberschulen haben ganze Schubladen voll mit Beschwerdebriefen oder bekommen E-Mails, in denen mit dem Anwalt gedroht wird. Das sei, sagt eine Grundschuldirektorin dem Zehlendorf Blog, nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.

Reinhard Hoffmann sagt: "Wir erleben in den bürgerlichen Gegenden oft einen sehr fordernden, individualistischen Blick, bei dem nur das eigene Interesse oder die eigenen Kinder gesehen werden, und die Fehler immer bei den anderen liegen."

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Natürlich wissen Glück und Hoffmann, dass ein Bezirk wie Steglitz-Zehlendorf genau so betroffen ist von den vielschichtigen gesellschaftlichen Veränderungen wie alle anderen auch. Vielleicht sind hier nur die Reaktionen panischer. Hoffmann versucht es deshalb mit einem Appell: „Viele wollen immer früher optimale Ausgangslagen für ihre Kinder in der Gesellschaft herstellen. Ich plädiere für mehr Gelassenheit, auch wenn sich das leicht sagen lässt. Wir müssen den Kindern mehr vertrauen, die Eltern sollten sich zügeln."

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel und hat den Zehlendorf Blog konzipiert. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

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