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Berlin: „Bildung und Leistung zählen wieder“

Schulsenator Klaus Böger (SPD) sieht keinen Grund, nach der zweiten Pisa-Studie die Reformen in Berlin nachzubessern

In drei Wochen beginnt das neue Schuljahr. Wie sollen die vielen Reformen ordentlich umgesetzt werden, die dann alle gleichzeitig beginnen? Die frühere Einschulung, die Ganztagsbetreuung, der mittlere Schulabschluss…

Wir haben damit die notwendigen Konsequenzen aus dem ersten PisaSchock gezogen. Niemand bestreitet mehr, dass wir die richtigen Schritte gehen. Die werden jetzt sukzessive umgesetzt. Übrigens: Bayern hat damit viel früher begonnen, zum Beispiel neue Standards gesetzt - mit Erfolg.

Man wird aber den Eindruck nicht los, dass Ihre Verwaltung dabei ziemlich chaotisch agiert. Jetzt wurden im Schnellverfahren noch ein paar neue Lehrer eingestellt.

Dieser Vorwurf ist Quatsch. Einstellungen erfolgen nicht nach Lust und Laune, sondern nach dem Bedarf, der sich Monat für Monat ändert. Wir waren sehr aufmerksam und steuern zeitlich früh nach. Über jeden neu eingestellten Lehrer sollten wir uns freuen, auch und besonders in einer Hauptstadt der schnellen Aufgeregtheiten. Ich bin jedenfalls sehr glücklich, in diesem Jahr so viele junge Lehrer einstellen zu können.

Lehrer und Erzieher werden zum neuen Schuljahr hineingeschubst in die neue Nachmittagsbetreuung.

Jeder Wandel schafft produktive Unruhe und Konflikte und erfordert, dass umgedacht wird. Die Berliner Schulen werden künftig, in den Klassen 1 bis 4, verantwortlich sein für Bildung und Erziehung. Lehrer und Erzieher sind an diesem Prozess gleichberechtigt beteiligt. Im Osten der Stadt hat dies Tradition, im Westteil ist dies neu. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass das Modell der verlässlichen Ganztagsschule funktioniert.

Es läuft also alles nach Plan?

Die Erzieher wissen , wohin sie kommen. Nur gegen einzelne Versetzungen gibt es noch Widersprüche. Im Ostteil der Stadt ist die Ganztagsbetreuung ohnehin bewährte Praxis. Man muss nicht nach Finnland reisen, sondern kann auch in Marzahn sehen, wie eine Ganztagsschule gut funktioniert…

… während im Westen die Lehrer hysterisch auf die Veränderungen reagieren?

Das haben Sie gesagt. Ich bin im Ganzen zufrieden mit den Vorbereitungen. Auch mit dem Stand der Umbaumaßnahmen in den Bezirken.

Die Baumaßnahmen ziehen sich aber noch ins neue Schuljahr hinein?

Das geht nicht anders. Den Schulbetrieb wird das aber nicht wesentlich beeinträchtigen. Die 147 Millionen Euro für die Baumaßnahmen werden in Jahresraten bis 2007 zugewiesen. Der Bund gibt das Tempo vor.

Sie können gut schlafen, wenn Sie ans neue Schuljahr denken?

Ja. Aber ich habe während meiner politischen Laufbahn noch nie so viel Energie und Zeit in ein Problem investiert wie in die neuen Schulreformen. Der Veränderungsdruck im Bildungsbereich ist enorm, und ich empfinde diese Herausforderung stark. Aber diese Veränderungen brauchen Klarheit, Kontinuität und damit auch Zeit.

Dem ersten Pisa-Schock folgt jetzt die zweite Pisa-Studie: Müssen, angesichts der neuen Erkenntnisse, die Berliner Schulreformen nachgebessert werden?

Nein. Unsere Reformen sind in der Richtung alle richtig. Das Einzige, was ich zugestehe, ist: Das Schulgesetz hätte eher noch früher verabschiedet werden müssen. Aber erfreulich an den Pisa-Ergebnissen ist doch, dass sich in den drei Jahren seit der ersten Studie schon markante Fortschritte ergeben haben. Und zwar, ohne dass die Reformen schon greifen konnten – allein durch einen Mentalitäts- und Kulturwandel. Bildung und Leistung zählen wieder.

In Berlin gilt das vorerst nur für die Gymnasien. In den Hauptschulen sieht es immer noch düster aus. Müsste man die nicht endlich auflösen und mit den Realschulen zusammenlegen?

Ich schließe weitere Zusammenlegungen nicht aus. Auch andere Länder denken darüber nach, vor allem aus demografischen Gründen. Die Zahl der Schüler schrumpft, da bietet sich dies an. Aber die Frage nach den Schulformen ist nicht die Kardinalfrage. Mit der bloßen Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen kann man die Probleme Neuköllns oder Kreuzbergs nicht lösen. Viel wichtiger ist es, die praxisnahe Ausbildung in den Hauptschulen zu stärken und die Zusammenarbeit mit der bezirklichen Jugendhilfe zu suchen. Vergessen wir auch nicht, dass es viele Hauptschulen mit höchst engagierten Lehrern gibt, die Sie und mich jederzeit begeistern können.

In Ihrer Partei, der SPD, gilt die Gemeinschaftsschule bis zur Klasse 10 als Modell zur Lösung der Bildungsprobleme.

Meine Partei versteht die Gemeinschaftsschule als ein mögliches Angebot, für das sie werben will. Für mich ist sie ein Aspekt, kein Allheilmittel.

Sprechen die Pisa-Ergebnisse nicht eher dafür, die Durchlässigkeit des Schulsystems durch differenzierte Angebote zu erhöhen? Etwa durch mehr 5. und 6. Klassen in den neusprachlichen Gymnasien?

Die Durchlässigkeit des Berliner Schulsystems ist bundesweit beispielhaft. Ich sehe keinen Grund, am sechsjährigen gemeinsamen Lernen zu rütteln. Im Kampf der Schulen um die Schüler ist es kaum zu legitimieren, bestimmten Gymnasien Möglichkeiten einzuräumen, die anderen grundsätzlich verwehrt bleiben. Was in Berlin weiter gestärkt werden sollte, sind mathematisch-naturwissenschaftliche Zweige. Da müssen wir was tun.

In Berlin gibt es eine große Kluft zwischen leistungsstarken Spitzenschülern aus bildungsnahen Elternhäusern und vielen schlechten Schülern aus sozial schwachen Elternhäusern und Migrantenfamilien. Nehmen wir die Lesekompetenz: Ausgerechnet in Berlin, wo so viele Kinder in Krippen und Kitas gehen und an allen möglichen Sprachförderprogrammen teilnehmen, gibt es schlechte Pisa-Ergebnisse.

Als die bei Pisa getesteten 15-jährigen Schüler im Kita-Alter waren, gab es viele dieser Förderungen noch nicht. Jetzt sind wir dabei, die Kitas als Bildungseinrichtungen zu formieren. Westdeutsche Eltern träumen vom Berliner Tagesbetreuungsangebot.

Was haben die Erzieher bisher getan?

Viel – aber die Probleme sind sehr groß und der Mentalitätswandel ist frisch. Bis zum Jahr 2000 galt es ja als Beleidigung, wenn man verlangt hat, dass Migrantenkinder Deutsch lernen. Die besondere Herausforderung sind türkische Kinder, die zu Hause nur türkisch sprechen.

Ein Problem, das Kitas und Schulen nicht alleine stemmen können.

So ist es. Eltern- und Bürgerinitiativen, Stadtteilzentren, das Quartiersmanagement und Integrationsprojekte müssen helfen. Aber Sprache ist der Schlüssel. In Stadtquartieren mit einseitiger Migrantenstruktur sind die Probleme noch größer als dort, wo zum Beispiel Serben, Kroaten, Russen, Türken und Asiaten gemeinsam in die Schule gehen. Dann wird die deutsche Sprache zwangsweise zum verbindenden Element.

Die Bildungssituation der Migrantenkinder wurde im Rahmen der Pisa-Studie gesondert untersucht. Die Ergebnisse werden erst im November vorliegen. Haben Sie schon Hinweise?

Nein. Aber ich erwarte, dass sich der Zusammenhang zwischen bildungsfernem Elternhaus und unterdurchschnittlichem Bildungsstand der Kinder auch für Berlin bestätigt. Mit der Frage nach der Intelligenz hat das aber am allerwenigsten zu tun. Die Zustände sind nicht naturgegeben, es gibt viele ungenutzte Potenziale.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Ulrich Zawatka-Gerlach.

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