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Gute Momente. Eine Kindergruppe des Kinderschutzbundes Wedding tobt auf dem Spielplatz in der Liebenwalder Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

Kinderarmut: Bloß nicht drüber reden - vor fünf Jahren

Keine Geburtstagsparty, keinen Urlaub, kein Handy: In Berlin leben 200.000 Kinder und Jugendliche in Armut. Verbände und Stadtteilzentren versuchten zu helfen. Ein Besuch in Wedding und Steglitz. Was Eva Kalwa darüber schrieb.

Im Wasser sind sie alle gleich. Es gibt nur strampelnde Beine und rudernde Arme, strahlende Gesichter und fröhliches Lachen. Es ist egal, dass Pablo nur eine Unterhose anstelle einer richtigen Badehose anhat und dass Kira (Namen geändert) in der Umkleide wieder ihr löchriges T-Shirt anziehen wird. Und wer beim wöchentlichen Besuch im Kombibad an der Seestraße mit acht oder neun Jahren noch nicht schwimmen kann, wird auch nicht ausgelacht. Viele andere Kinder aus der ergänzenden Ganztagsbetreuung der Hermann-Herzog- und Trift-Grundschule können das schließlich auch noch nicht.

Mehr als 200 000 Kinder und Jugendliche leben in Berlin unterhalb der Armutsgrenze, in sozialen Brennpunkten wie in Wedding kommen acht von zehn Kindern aus armen Familien. Hier ist sie zu Hause, die Kinderarmut, über die bei der aktuellen Diskussion um die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze so vehement und teils so abstrakt gestritten wird. Aber wie sieht diese Armut aus? Fest steht, dass sie auf den ersten Blick oft kaum erkennbar ist. Erst bei genauem Hinsehen und nach mehreren vertrauensbildenden Gesprächen zeigt sie ihr Gesicht. Ein kleines Gesicht mit großen Augen – braun, blau, grün oder grau –, in denen sich abwechselnd Traurigkeit, Hoffnung, Wut und Lebensfreude spiegeln. Für die meisten der Kinder scheint der stete Mangel an Geld kein großes Thema, zumindest nicht nach außen hin. Weil sie aus Selbstschutz gelernt haben, nicht zu viel darüber nachzudenken und schon gar nicht, darüber zu reden.

Außerdem geht es doch vielen hier so: Wieder ohne die Hallenturnschuhe oder den Marken-Buntstiftkasten zum Unterricht zu kommen, obwohl die Lehrerin schimpfen wird. Am Geburtstag die Freunde nicht einladen zu können, weil das Geld am Monatsende fehlen würde. Oder sich nicht mehr an den letzten Familienausflug erinnern zu können. „Manchmal wünsche ich mir, dass alle Reichen in Deutschland ihr Geld verlieren würden, damit sie mal sehen, wie es ist, arm zu sein“, sagt ein neunjähriges Mädchen, die Augen viel zu alt für das junge Gesicht. Um sie herum auf dem Spielplatz in der Liebenwalder Straße toben die Freunde, noch ganz aufgekratzt vom Schwimmen. Auf der Nachbarbank sitzt eine junge Familie. Die kleine Tochter macht irgendetwas, was der Mutter nicht gefällt. Sie schlägt dem leise weinenden Kind mehrfach fest auf den Po. Passanten laufen ohne ein Wort vorbei.

Das Stigma, unter dem Kinder aus armen Familien leiden, verstärken manche Lehrer noch. Weil sie nicht darüber nachdenken, was es bedeuten kann, wenn sie eine schwarze Hose für die Tanzaufführung vorschreiben. Denn eine solche Hose hängt bei Kira oder Pablo womöglich nicht im Schrank und kostet selbst beim Discounter 15 Euro. „Daher ist es zwingend notwendig, die Armutskompetenz von Lehrern zu fördern“, sagt Sabine Walther, Geschäftsführerin vom Landesverband Berlin des Deutschen Kinderschutzbundes. Und fordert ein generell besseres Verständnis für die Schwierigkeiten eines Lebens in Armut. Beispiel Staatliche Museen zu Berlin: Diese erheben ab sofort keinen Eintritt mehr für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre. So weit, so erfreulich. Doch der Kinderschutzbund wird dies wie viele freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe wegen der Fahrtkosten kaum nutzen können. Denn nur Schulklassen bekommen bei der BVG Ermäßigung, andere Kindergruppen nicht.

„Zu behaupten, Eltern aus Hartz-IV-Familien würden nur zu Hause rumsitzen, das wenige Geld versaufen und die Kinder prügeln, ist eine verwerfliche Pauschalverurteilung“, sagt Walther. Ihre Mitarbeiter machten in Wedding andere Erfahrungen. Dort gebe es zahlreiche Eltern, viele mit Migrationshintergrund, die alles für ihre Kinder tun, erzählt Walther. Und dafür stets selbst zurückstecken. So wie Saba Arslan. „Ohne Geld hast du immer ein schlechtes Gewissen gegenüber deinen Kindern. Dabei ist dein Selbstbewusstsein sowieso im Keller, weil du keine Arbeit findest“, sagt Arslan. Seit Jahren versucht die vierfache Mutter, wieder eine Teilzeitstelle als Bürokraft zu finden. Ohne Erfolg. „Vom Jobcenter kommen höchstens Angebote wie der dritte Excel-Kurs oder das fünfte Bewerbungstraining”, erzählt die 43-Jährige.

Neben den fürsorglichen Eltern gibt es aber auch die anderen. Eltern, die aus Scham, Unwissenheit, aufgrund fehlender Sprachkenntnisse oder weil sie sich selbst bereits aufgegeben haben, nicht dafür sorgen, dass sie und ihre Kinder alle ihnen zustehende Unterstützung erhalten. Alkoholkranke Eltern. Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen und schlagen. Diese Folgen der Armut bekommt Matthias Brockstedt, ärztlicher Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in Mitte, täglich zu spüren. In seine Sprechstunde kommen viele Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten, mangelndem Selbstwertgefühl, fremd- oder autoaggressiven sowie depressiven Auffälligkeiten, die er kostenlos impft und behandelt. Denn viele sind nicht krankenversichert. „Eigentlich ist es unsere Aufgabe, durch Hausbesuche der Erstgeborenen präventiv tätig zu werden“, sagt Brockstedt. Aufgrund von Personalmangel könne man aber in Mitte nur rund 70 Prozent dieser Besuche durchführen, in Neukölln sogar nur 40 Prozent. Die eigentlich dringend erforderlichen Besuche nicht nur der Erstgeborenen, sondern aller Neugeborenen sind gar nicht finanzierbar. Überdies würden immer weniger Erstgeborene besucht, sagt Brockstedt, da man stattdessen in immer mehr Fällen akut gefährdeten Kindeswohls einschreiten müsse. Ein Teufelskreis.

Ist es für ein Kind schon schwierig, in Wedding, Moabit oder Marzahn arm zu sein, ist dies in „reichen“ Bezirken wie Steglitz-Zehlendorf mitunter noch belastender. Die Kinder und Jugendlichen, die nach der Schule im Stadtteilzentrum Steglitz in Lichterfelde-Süd betreut werden und dort für 20 Euro im Monat essen, basteln, tanzen und Gitarre spielen lernen können, haben viele Klassenkameraden aus gut situierten Familien. Eine Welt, in der Markenkleidung, das neueste Handy oder drei Familienurlaube pro Jahr zur Normalität gehören. Genauso wie Schwimmkurse, wie Klavier-, Tennis-, Reit- oder Ballettstunden. Diesen Unterschied tagtäglich zu spüren, das tut weh. Vor allem, wenn er benutzt wird, um zu demütigen. „Na, hat deine Mutter wieder bei Kik eingekauft?“, mag einen Erwachsenen, der sich gegen den Markenwahn stellen will, bestätigen. Doch in den Seelen der betroffenen Kinder hinterlassen die ständigen Hänseleien tiefe Spuren. Und was darauf antworten? Die Wahrheit bestimmt nicht: „Manchmal hatten wir so wenig Geld, dass ich nichts zum Geburtstag bekommen habe“, sagt ein zwölfjähriges Mädchen mit gesenktem Kopf. Ihre Freunde im Speise- und Festsaal des Stadtteilzentrums blicken sie freundlich an. Hier im Schülerclub ist der Zusammenhalt groß, auch ohne viele Worte. Leise fährt das Mädchen fort: „Trotzdem möchte ich studieren und eines Tages mal Ärztin werden.“ Dafür strengt sie sich in der Schule sehr an. Und hofft von ganzem Herzen, dass das reicht.

Der Beitrag erscheint in unserer Rubrik "Vor fünf Jahren"

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