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Berlin: Böger will frühere Pflichtuntersuchung für Kinder Verwahrlosungsfälle würden bisher zu spät erkannt

Neue Vorwürfe gegen Spandauer Jugendamt

Jugendsenator Klaus Böger (SPD) möchte eine frühere Pflichtuntersuchung für Kinder. Derzeit müssen Kinder erst ein halbes Jahr vor der Einschulung untersucht werden. „Wir halten diesen Zeitpunkt für zu spät“, sagte Böger gegenüber dem Tagesspiegel. Insbesondere sprachliche Defizite, aber auch mögliche Verwahrlosungstendenzen würden zu diesem Zeitpunkt zu spät erkannt. Da man jedes Kind schützen und fördern wolle, habe er eine Projektgruppe ins Leben gerufen, diese frühere Pflichtuntersuchung zu ermöglichen. Er verstehe nicht, dass es so viele Bedenkenträger gegen eine frühere Vorstellung gibt. „Kindeswohl geht vor Elternrecht, wenn es um den Schutz vor Vernachlässigung geht“, sagte Böger. Der Jugendsenator bezieht sich dabei auf Kritiker von Pflichtuntersuchungen, die die grundgesetzlichen Rechte der Eltern, frei über die medizinische Behandlung ihrer Kinder entscheiden zu dürfen, dagegen ins Feld führen.

Zwar gibt es für Kinder bis zur Vollendung des fünften Lebensjahres auch jetzt schon neun Vorsorgeuntersuchungen, die aber freiwillig sind. Kinderärzte und der Kinderschutzbund halten es aber nicht für praktikabel, die Untersuchungen gesetzlich vorzuschreiben. „Das geht bei dem System der niedergelassenen Ärzte auch gar nicht“, sagt Elke Jäger-Roman, die Vorsitzende des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte. Denn nur staatliche Stellen könnten die Einhaltung auch kontrollieren. Da es aber natürlich sinnvoll sei, Kinder regelmäßig untersuchen zu lassen, müsse es ein Anreizsystem für Eltern geben, welche sonst die Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnehmen. Während die Neugeborenen fast flächendeckend noch untersucht werden, nimmt dies nach dem ersten Lebensjahr ab. Kinderärzte beklagen auch, dass es zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr keine Vorsorgeuntersuchung gibt.

Die Frage, wie man früher an Problemfamilien herankommen kann und ob die Jugendämter alle Spielräume ausschöpfen, ist wieder aktuell geworden, nachdem in der vergangenen Woche zwei Kinder in einer völlig verwahrlosten Spandauer Wohnung aufgefunden worden waren. Beim älteren Kind wurde eine auffällige Verzögerung der sprachlichen Entwicklung festgestellt. Die zuständige Jugendstadträtin Ursula Meys wies den Vorwurf zurück, ihr Amt habe nicht hinreichend auf Hinweise der Wohnungsbaugesellschaft reagiert, wonach mit der Familie möglicherweise etwas nicht stimme.

Wie gestern Tagesspiegel-Nachfragen ergaben, bestehen Widersprüche zwischen der Aktenlage des Jugendamtes und den Angaben der Wohnungsbaugesellschaft Deutschbau. Deren Niederlassungsleiter Matthias Stock wies gestern darauf hin, dass das Jugendamt zweimal auf mögliche Missstände in der Familie hingewiesen wurde: Zunächst im April 2004 und dann nochmals im September 2004. Aufmerksam geworden war man auf die Familie, weil die Jalousien „nicht mehr bewegt wurden“, weil es aus der Wohnung stank und weil das damals fünfjährige Kind auffällige Sprachprobleme gehabt habe.

„Den Anruf vom April können wir nicht rekonstruieren“, sagte gestern Jugendamtsleiter Gerd Mager auf Rückfrage. Die namentlich genannte Mitarbeiterin habe glaubhaft versichert, einen dertigen Anruf nicht erhalten zu haben. Deshalb habe man erst im September erstmals von dem Fall erfahren und die Familie angerufen. „Die Kollegin ist hingehalten worden“, berichtet Mager. Man habe aber auch keinen besonderen Anlass zur Sorge gesehen, weil man inzwischen von der Deutschbau wusste, dass eine Wohnungsbegehung im April keine besonderen Beanstandungen ergegen habe. Deshalb sei der Entschluss gefallen, die Einschulungsuntersuchnung des inzwischen sechsjährigen Kindes abzuwarten.

Mager beharrte auch gestern darauf, dass sein Amt richtig gehandelt habe: „Dass es aus einer Wohnung stinkt, erleben wir ständig“, rechtfertigte er die abwartende Haltung der Mitarbeiter und verwies darauf, dass es schließlich selbst dann stinke, „wenn ich Blumenkohl koche“. Generell gab er aber zu, dass es in Spandau mehr Probleme gebe als früher. Deshalb seien auch zwei Mitarbeiterinnen vom sozialpädagigischen Dienst abgezogen und dem Krisendinets zugewiesen worden. Immer mehr Regionen in Spandau näherten sich den Problemlagen an, die man bisher nur aus Kreuzberg, Wedding oder Marzahn kenne.

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