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Berufstürkin. Idil Baydar, 41, lässt ihre Figur Jilet Ayse alle Klischees über Türken verkörpern.

© Thilo Rückeis

Böhmermann vs Erdogan: "Hätten wir bei Netanjahu anders reagiert?"

Privat findet Idil Baydar Böhmermanns Gedicht geschmacklos. Als Kabarettistin sieht sie das anders. Heute diskutiert sie mit Satirikern und Journalisten im Tipi. Auch Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt ist dabei.

Es gibt Momente, in denen der Privatmensch anders denkt als die Bühnenfigur. Für Idil Baydar ist jetzt mal wieder so ein Moment gekommen. Und der Grund dafür ist Jan Böhmermann.

Baydar, 41, sitzt auf der grauen Couch in der Tempelhofer Wohnung und nimmt einen großen Schluck Kaffee. Ihre dunkelblonden Haare fallen locker auf die Schultern, das Make-up ist dezent, ihre Augen lächeln. Kein Vergleich mit Jilet Ayse, ihrer Kunstfigur, die man in ihren Youtube-Videos seit 2011 auf eben dieser Couch sitzen sieht: Alles an ihr ist schrill und überzeichnet, knalliges Make-up, hochtoupierte Haare. Auf dem Tisch liegen dann verschiedene Mobiltelefone und Snacks – heute steht da nur die Tasse Kaffee.

„Ich habe mich irgendwann entschieden, Berufs-Türkin zu werden“, sagt Idil Baydar und lacht. Ihre Figur Jilet Ayse versammelt alle Klischees über Türken, überzeichnet sie und zeigt so die Absurditäten des gesellschaftlichen Diskurses auf. Am heutigen Sonntag ist Baydar Gast in der Radioeins-Sendung „Freiheit für Böhmermann“, der Satire-Talk-Show im Tipi am Kanzleramt, die der Radiosender anstelle der Sendung „Sanft und Sorgfältig“ mit Olli Schulz und Böhmermann sendet – letzterer hat aufgrund der aktuellen Debatte erneut abgesagt. Nun also diskutiert Baydar mit anderen Kabarettisten und Journalisten die aktuelle Debatte um das umstrittene Gedicht des TV-Moderators.

"Was hätte man gedacht, wenn da Netanjahu gestanden hätte?"

Also, was hält sie denn nun davon?

Idil Baydar seufzt. „Satirisch arbeite ich ähnlich“, sagt sie dann. Aber Idil, also sie selbst, stehe für etwas anderes als Jilet Ayse, ihre Figur. Die Privatperson Idil Baydar findet das Gedicht geschmacklos und sprach-rassistisch: „Es sind ja alle Klischees aufgeführt, mit denen wir als Türken schon betitelt wurden: Ob Ziegenficker, ob Unterdrückte, ob Frauenschläger – Böhmermann hat alles drin“, sagt sie. „Ich frage mich schon, was man wohl gedacht hätte, wenn anstelle von Erdogan der Name Netanjahu da gestanden hätte.“

Baydar nimmt noch einen Schluck Kaffee. Und die Künstlerin, die Satirikerin? Die findet die Form, die Böhmermann gewählt hat, völlig legitim. „Er hat das sehr gut gemacht“, sagt Baydar. „Ich finde, dass Satiriker auch über das Ziel hinausschießen dürfen. Dass sie Dinge so brisant darstellen dürfen, dass sie dich eben auch manchmal schocken.“ Satire, sagt sie, spricht Dinge aus, „die wir sonst nicht aussprechen würden. Und das ist auch richtig so.“ Ihr Vorteil sei, dass sie öffentlich in ihrer Rolle als Jilet Ayse agieren könne. „Das ist Kunst, da herrscht Anarchie“, sagt sie. Jan Böhmermann habe zwar auch als Satiriker eine Rolle, sei aber eben auch die Zivilperson Jan Böhmermann. „Und das ist dann glaube ich verfänglicher.

"Böhmermann macht sich auch über deutsche Vorurteile lustig"

Eine Strafverfolgung Böhmermanns findet sie dennoch „schwachsinnig, weil es darum nicht geht.“ Worum es geht, da hat die Tochter türkischer Einwanderer, die in Celle geboren ist und mit 16 Jahren nach Berlin kam, eine ganz andere Idee. Jenseits der aktuellen Debatten um Meinungsfreiheit und der Frage, ob sich die Bundesregierung erpressbar gemacht hat, sieht Baydar noch eine andere Ebene: Böhmermann mache sich ihrer Meinung nach auch über die Deutschen und deren Erzählungen von Migranten lustig. „Seit 50 Jahren erzählt man sich nur, dass wir Ausländer kriminell sind, primitiv sind. Es wird null Fokus auf die positiven Dinge gelegt“, sagt Baydar. Dabei gäbe es doch genügend positive Beispiele. „Ich kenne Leute, deren Eltern können nicht lesen und schreiben, und die Kinder haben studiert“, sagt Baydar, die neben ihrer Comedy-Karriere auch als Integrationsbegleitung einer fünften Klasse in Kreuzberg gearbeitet hat.

Böhmermann habe – ob intendiert oder nicht – womöglich eine Diskussion über die deutsche Erzählung von Migranten angestoßen. „Böhmermann hat damit aus meiner Perspektive einen Dienst an der Gesellschaft geleistet“, sagt sie.

"Sind wir nicht in einer Doppelmoral?"

Baydar hofft, bei der heutigen Talkrunde Fragen aufzuwerfen, die im Fall Böhmermann bisher noch nicht gestellt wurden: „Ich hoffe, dass wir uns fragen können: Sind wir wirklich besser?“

Böhmermann teile ja in alle Richtungen aus. „Wenn er Frauke Petry fertig macht, freuen wir uns alle“, sagt Baydar. „Wenn er Isis fertig macht, freuen wir uns alle. Da müssen wir schon gucken, ob wir da in einer Doppelmoral sind.“ Und das Thema der Meinungsfreiheit sei definitiv etwas, worüber zu reden sei.

Könnte man die Erzählungen über Migranten auch anders gestalten?, fragt sie sich. Da sei dann Deutschland gefragt – ein Land, das in ihren Augen einen relativ hohen Anspruch an sich habe. Wenn diese Fragen auf ehrlicher Basis gestellt würden, dann sei sie gern dabei.

Idil Baydar hat übrigens neben Jilet Ayse noch eine weitere Figur im Repertoire: die rassistische Berlinerin Gerda Grischke. Was die zu dem Böhmermann-Gedicht sagen würde? Klar: „Dit is super, janz toll, dit is AfD-Vokabular, ick bin janz begeistert. Endlich sacht ma jemand, wie die Türken wirklich sind.“

Idil Baydar tritt mit „Deutschland, wir müssen reden!“ vom 6.-8. Mai, 20 Uhr, in der Bar jeder Vernunft, Schaperstraße 24, Wilmersdorf auf. Karten ab 22 €, erm. 12,50 €. Infos unter: www.idilbaydar.de.

Die Frage „Was darf Satire?“ stellt am Sonntag, dem 17. April, um 12 Uhr der Radioeins-Satire-Show-Talk im Tipi am Kanzleramt. Mit dabei sind Idil Baydar, ihre Kabarettisten-Kollegen Florian Schroeder und Arnulf Rating, der Ex-Präsident der Akademie der Künste Klaus Staeck, „taz“-Journalistin Ebru Tasdemir, Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt und Markus Feldenkirchen vom „Spiegel“. Es moderiert Marco Seiffert. Die Karten kosten 12,50 €. Radioeins strahlt die Aufzeichnung von 16 bis 18 Uhr aus, das rbb-Fernsehen zeigt die Diskussion in der Nacht von Sonntag auf Montag um 0.15 Uhr.

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