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Was geblieben ist. Noch heute erinnern zahllose Blindgänger an das Bombardement von Berlin vor 70 Jahren.

© IMAGO

Bomber und Entschärfer: Zwei Leben in Gefahr

Vor 70 Jahren tobte die Luftschlacht um Berlin. Heute entschärft Dietmar Püpke die Last, die Männer wie Jeff Gray damals über der Stadt abwarfen. Was den heute 92-jährigen Piloten und den Polizeifeuerwerker eint, ist die Nähe zur Bombe.

Im Zentrum der Aufregung ist der Tod nahe, liegt die Gefahr der Zerstörung in der Luft. Blaulicht rotiert, Absperrband flattert, Menschen hetzen und scheuchen. Dietmar Püpke bleibt. Kerzengrade steckt sie vor ihm in der Erde: ein Prachtexemplar einer britischen Fliegerbombe, 250 Kilogramm TNT ummantelt von 250 Kilogramm Stahl, der Zünder ragt heraus. Es ist der 8. Dezember 2005, Püpke und seine Kollegen stehen mitten auf einer Baustelle Unter den Linden. Rechts die Deutsche Bank, links die Staatsbibliothek, 500 Meter weiter vorne der Bronze-Fritz zu Pferd. Kurz vor Feierabend hatte das Telefon geklingelt - Bombenverdacht in Berlins Zentrum: Bauarbeiter hatten die Polizei gerufen, weil sie mit dem Bagger auf einen Blindgänger gestoßen waren. Nun räumt die Polizei alle Gebäude im Umkreis von 350 Metern: Humboldt-Universität, Hotels, Geschäfte, Guggenheim-Museum, Staatsoper und Weihnachtsmarkt. Die umliegenden Straßen sind gesperrt. Während alle davoneilen, sucht Püpke die Nähe der Bombe. Konzentration. Ruhe. Wie jeder Einsatz könnte auch dieser sein letzter sein. Doch daran denkt Püpke nicht. Nicht jetzt, direkt vor der Bombe. "In dieser Situation herrscht eine Grundakzeptanz in mir", sagt er. "Die Risikofrage muss man vorher für sich erledigen, sonst wird man schizophren." Gut fünf Stunden nach dem Fund gelingt es Püpke und seinen Kollegen, die Bombe erfolgreich zu entschärfen. Seit dem 1. Juli 1948, so ist es in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung dokumentiert, wurden 1347 Fliegerbomben in Berlin gefunden. Jedes Jahr werden im Boden neue Blindgänger entdeckt - und dann schlägt die Stunde der Experten. Sieben hauptberufliche Polizeifeuerwerker gibt es in Berlin, und Dietmar Püpke ist einer von ihnen. Er sagt: "Nach uns kommt keiner mehr." Vor der Bombe sind sie auf sich allein gestellt, müssen sich einzig auf ihr Wissen und ihren Instinkt verlassen.

Auftrag Feuersturm
Ein kleiner Flugplatz im britischen Lincolnshire, nahe dem Dörfchen Skellingthorpe. Am Nachmittag beladen und testen Jeff Gray und seine Kameraden ihre Maschine. Um 16.44 Uhr heben sie in ihrer viermotorigen Lancaster ab. Die Royal Airforce (RAF) fliegt mit der Dämmerung, rund 940 km Luftlinie, sieben Flugstunden hin und zurück - für jene, die zurückkehren werden. Ihr Ziel: Berlin. Ihre Ladung: Bomben, 8000 kg pro Flugzeug. Ihr Auftrag: einen Feuersturm entfachen. Es ist der 29. Dezember 1943, es tobt die Schlacht um Berlin.
Charles Jeffrey Gray ist zu dieser Zeit 22 Jahre alt. Sein Porträt von damals zeigt einen jungen Mann mit schmalen Lippen. Aufrecht und stolz trägt er seine RAF-Uniform, nur der Blick weicht der Kamera aus, geht in die Ferne. Auf einem Gruppenfoto stehen sieben Männer mit breitem Lächeln vor der Lancaster G-George. Gray und seine Crew sind Teil der 61. Schwadron und fliegen - wie sie es unter anderem auch in der Nacht zum Heiligabend taten - zum vierten Mal nach Berlin. Bis in den Februar 1944 werden sie an weiteren fünf Einsätzen über der deutschen Hauptstadt beteiligt sein, teilweise mehrere Nächte hintereinander.
Als Kopilot ist Gray schon häufiger Einsätze über Deutschland geflogen. Aber Berlin gilt unter den RAF-Piloten als "the big one". Nirgends wird das Deutsche Reich besser verteidigt, heißt es. "Man braucht ein paar Runden, bevor man wirklich weiß, was man tut", erinnert sich der heute 92-jährige Gray. Lebhaft erzählt er am Telefon von damals, die kleinen Details dieser Einsätze sind tief in seinem Gedächtnis verankert. Unter den neuen Crews habe die RAF deutlich höhere Verluste verzeichnet als unter den erfahrenen. Doch das haben sie als junge Piloten nicht gewusst. "Wir sind losgeflogen und haben getan, was wir für das Richtige hielten." Sie sind losgeflogen und waren entschlossen, zurückzukehren.
300 bis knapp 900 Flugzeuge der RAF nahmen pro Operation am "Moral Bombing" teil. Viele deutsche Städte, so behauptete damals der RAF-Oberkommandierende Arthur Harris in einem Memorandum, seien bereits schwer angeschlagen oder völlig zerstört. Nun gelte es, Berlin zu verwüsten, um das nationalsozialistische Deutschland endgültig zu besiegen. Die "Enthausung" der Menschen in den Arbeitervierteln, so die strategische Hoffnung, würde die Bevölkerung zu einem Aufstand gegen das Hitler-Regime bewegen. Am 18. November 1943 begann der Bombenhagel. Bis zum März 1944 flog die RAF 16 Großangriffe auf Berlin, setzte dafür insgesamt 9111 Flugzeuge ein.
In 20 000 Fuß Höhe ist es still in der Lancaster. Als Captain ist Gray für einen Navigator, einen Ingenieur, einen Funker, einen Bombenschützen und zwei Schützen verantwortlich - und für ihre Stimmung. Gray begegnet dieser Anforderung mit Disziplin: "Ich konnte nicht erlauben, dass sie quatschen, es hätte genau der Moment sein können, in dem etwas passiert. Nur in der Stille konnte man den Zuruf des Funkers sofort hören, wenn sich ein Jagdflugzeug näherte." Alle 20 Minuten unterbricht Gray die Ruhe, spricht reihum jeden einmal an: "Alles in Ordnung bei dir? Ist dir kalt? Hast du etwas gesehen?" So stellt er sicher, dass alle an Bord wach und aufmerksam sind, spricht Mut zu. "Es ist nicht leicht, für einen langen Zeitraum Ausschau zu halten und alarmiert zu sein, obwohl gar nichts passiert. Die meiste Zeit blickt man ins Schwarze, ins Nichts."

Kurz vor Berlin steigt sein Bombenschütze, ein Waliser namens Ronald Jones, in die Nase des Flugzeugs. Er checkt das Bombenvisier, verfolgt die Himmelsmarkierungen der vorausgeflogenen Pathfinder-Force der RAF. Ab dann gibt er die Richtung vor: "Rechts, rechts, geradeaus, etwas links." Kurz darauf hört Gray die Durchsage "Bombe ist raus!". Einen Augenblick muss Gray noch verweilen - eine Kamera an der Unterseite des Flugzeugs schießt ein Foto -, dann zieht er hoch und verschwindet, so schnell es geht.

Erst Luftminen, dann Brand- und Sprengbomben

Der Feuersturm als Auftrag. Im Winter 1943/44 war Jeff Gray einer jener Piloten, die im Rahmen der "Schlacht um Berlin" Angriffe auf die deutsche Hauptstadt flogen.
Der Feuersturm als Auftrag. Im Winter 1943/44 war Jeff Gray einer jener Piloten, die im Rahmen der "Schlacht um Berlin" Angriffe auf die deutsche Hauptstadt flogen.

© Privat

47 000 Tonnen Munition warfen die Alliierten im Laufe des Zweiten Weltkriegs über Berlin ab. Die Reihenfolge der Abwürfe war genau kalkuliert: zuerst die Luftminen, mit 1,8 Tonnen Sprengstoff in einer sechs Millimeter dünnen Stahlhülle. Die Druckwelle dieser "Wohnblockknacker" ließ in der Umgebung alle Fenster und Türen aus den Halterungen fliegen, deckte Dächer ab. Damit war der Weg frei für die Brandbomben, die mit schwer löschbaren Brandmitteln den Feuersturm entfachen sollten. Durch die Öffnungen in den Hauswänden und das fehlende Dach schürte der Kamineffekt die Feuer mit immer neuem Sauerstoff. Zuletzt wurden Sprengbomben mit Zeitzündern, die auf 30 Minuten bis 140 Stunden gestellt waren, abgeworfen. Mit ihrer großen Splitterwirkung sollten sie vor allem Gas- und Wasserleitungen beschädigen - und auch herbeieilende Retter treffen. Knapp 10 000 Menschen sterben im Laufe des Winters 1943/44 in Berlin durch die Luftangriffe. Unter der Hitze der Brandbomben schmilzt der Asphalt, ganze Viertel brennen nieder. Obdachlose und Ruinen prägen das Stadtbild. Doch der Plan von Arthur Harris geht nicht auf: Der Feuersturm funktioniert in Berlin nicht. In Städten mit mittelalterlichen Stadtkernen breitet sich das Feuer schnell aus. Aber in Berlin sind die Häuser aus Stein und die Straßen breit wie Schneisen. Damit wirken die Bausubstanzen aus dem 18. und 19. Jahrhundert wie Brandmauern. Das britische Bomberkommando erklärt die Strategie der "Schlacht um Berlin" schließlich im März 1944 für gescheitert.

Noch 3000 Blindgänger sind unentdeckt
November 2013: Früh am Morgen liegt die Avus noch im Nebel. Runter von der A115, rein in den herbstlichen Grunewald. Abseits der Zivilisation taucht zwischen den Bäumen ein Gelände auf: Maschendrahtzaun, Stacheldraht. "Munitionszerlegebetrieb" und "Lebensgefahr", warnt ein Schild. Die Abteilung für Kampf- und Explosivstoffe des Landeskriminalamts Berlin. Jenseits der Schranke tritt aus einem flachen Gebäude der 48-jährige Dietmar Püpke: Bürstenhaarschnitt, schwere Stiefel, khakifarbener Overall mit Deutschlandfahne auf dem linken Oberarm.
Laut Schätzungen haben 15 Prozent der von den Alliierten abgeworfenen Bomben nicht gezündet. Eine Karte bei Püpke im Büro zeigt Berlin, übersät mit Stecknadeln. Jede Nadel steht für eine gefundene Bombe: ein großer roter Nadelkopf für 2000-Kilogramm-Bomben, die kleineren Köpfe in grün, rot und schwarz für leichtere Bomben. Der Westen der Stadt ist wild besteckt, hauptsächlich rot und schwarz. Blindgängerfunde im Ostteil der Stadt werden hier erst seit 1990 dokumentiert, deshalb weniger Nadeln dort. Experten vermuten, dass noch rund 3000 Blindgänger unentdeckt in Berlins Boden liegen - mehr als doppelt so viele, wie seit 1947 geborgen wurden.
Warum haben diese Bomben vor 70 Jahren nicht gezündet? Zum Teil handle es sich schlichtweg um Fehlproduktionen, erklärt Püpke. "Außerdem waren die Unterseiten der Flugzeuge durch die Flughöhe häufig vereist und mit ihnen die Zünder der Bomben. Manche sind im Fall nicht rechtzeitig aufgetaut." Auch der Aufschlagwinkel spielte eine Rolle: Planmäßig sollten die aerodynamisch geformten Bomben mit der Spitze nach unten auftreffen. Tatsächlich wurden sie häufig durch die Druckwelle der Vorgängerbombe abgelenkt. Die meisten Blindgänger finden Püpke und seine Kollegen deswegen waagerecht oder schräg im Boden liegend.

Verteidigungsstrategie "Korkenzieher"
Lichter, überall Lichter - das ist alles, was Jeff Gray aus der Luft von Berlin sieht: Feuer und Rauch von gefallenen Bomben, Explosionen der Flak, Markierungen der Pathfinder. Am meisten fürchten Gray und seine Kameraden die hellen Lichtkegel, die den Himmel absuchen. Gezielt nehmen die deutschen Suchscheinwerfer einzelne Bomber ins Visier. "Battle-Witz" nennt Gray das heute und lacht. Damals ist die Lage ernst: Kaum wollen die britischen Bomber umkehren, sind die deutschen Jagdflieger aufgetankt wieder in der Luft und greifen an. Die Stimmung ist fiebrig, Gray sitzt der lange Flug in den Knochen. "Corkscrew!", schreien die Schützen durch die Lancaster, als sie einen Verfolger sehen. Der Korkenzieher ist Grays einzige Verteidigungsstrategie: Er taucht ab, dreht um, steigt wieder auf, dreht in die andere Richtung. "So wurde es schwierig, uns zu verfolgen. Aber irgendwann wusste die Luftwaffe, dass wir eine natürliche Tendenz hatten, nach links zu drehen. Also lernte ich, den Korkenzieher mit einem drehenden Sinkflug nach rechts zu machen, das erwarteten die Nachtjäger nicht."
Um 00:03 Uhr am 30. Dezember 1943 setzt Grays Lancaster auf der Landebahn im britischen Skellingthorpe auf. Nach gut sieben Stunden in der Luft sind Gray und die anderen jungen Männer seiner Crew sicher in der Heimat gelandet. "Wir hatten Glück und wurden nie ernsthaft getroffen", erinnert sich Gray, "Wir kamen zurück und sagten: Das war ein ziemlich ruhiger Trip. Denn das war es, wenn nichts passierte." Gray lacht, und in diesem Lachen des 91-Jährigen hört man den stolzen 22-Jährigen von damals. Beklommen ergänzt er: "Die Jungs, die einen schlechten Trip hatten, kamen nicht zurück."

Noch an der Basis werden die Aufnahmen der Flugzeugkamera ausgewertet. Eine Karte soll zusammenfassen, wo Bomben abgeworfen wurden. "Photo: Cloud only", heißt es im Protokoll von Grays Einsatz in der Nacht zum 30. Dezember 1943. Wolkenfotos, immer wieder Wolkenfotos - der Winter über Berlin sei sehr trübe gewesen, erinnert sich Gray.

Baggerfahrer mit Feingefühl

Gefahr durch Altlasten. Polizeifeuerwerker Dietmar Püpke lebt mit einem Risiko, das durch den inneren Zerfall der Bomben eher noch größer wird.
Gefahr durch Altlasten. Polizeifeuerwerker Dietmar Püpke lebt mit einem Risiko, das durch den inneren Zerfall der Bomben eher noch größer wird.

© dpa

Alle Luftaufnahmen der Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg helfen heute in Berlin bei der Suche nach Blindgängern. Mit dem Senatsbeschluss 672 hatte das Berliner Abgeordnetenhaus 1984 entschieden, das Luftbildarchiv der Alliierten aufzukaufen. 2009 wurde das Archiv nach gezielter Recherche durch weitere Bilder aufgestockt. Auf den Fotos sind nun die Stellen markiert, an denen Blindgänger vermutet werden. Berlin ist zu groß, um es flächendeckend abzusuchen. Aber Bauherren können ihr Grundstück auf Blindgänger überprüfen lassen. 1500 solcher Anträge pro Jahr gibt es, davon wird in 100 Fällen tatsächlich vor Ort gesucht. Nicht alle Bauherren stellen einen Antrag. Dass Blindgänger auf Baustellen gefunden werden, ist darum der Klassiker. "Berliner Baggerfahrer haben ein gutes Feingefühl", sagt Püpke, "sie merken sofort, wenn sie nicht nur Erde auf der Schaufel haben." Schaufel vorsichtig absetzen, sofort raus, Polizei anrufen, lautet für solch einen Fall die offizielle Empfehlung. Den Bauherrn kostet das nichts, auch nicht, wenn es sich um einen Fehlalarm handelt. "Lieber einmal mehr anrufen als einmal zu wenig", sagt Püpke. Erreicht ihn ein solcher Anruf, klärt Püpke als Erstes: Wo liegt der Blindgänger? Welche Nation hat die Bombe? Ist sie bewegt worden? Ob es britische, russische, amerikanische oder deutsche Munition ist, gibt Aufschluss über den Zünder. Pro Jahr müssen er und seine Kollegen durchschnittlich zwölf größere Bomben entschärfen.

Zünder mit Ausbausperre
Dafür muss Püpke vor Ort entscheiden: Wie lässt sich der Zünder ausbauen? Von Hand? Selten. Einige englische Zünder sind mit einer Ausbausperre versehen, ein kleiner Stift sorgt dafür, dass der bloße Ausbauversuch die Bombe hochgehen lässt. Modern ist das Verfahren der Hochdruckwasser-Schneidtechnik, wie sie bei der Bombe 2005 Unter den Linden und bei der Göttinger Bombe anno 2010 angewandt wurde: Mithilfe eines Hochdruckwasserstrahls fräst Püpke den Zünder aus der Ummantelung der Bombe. Klassischerweise wird der Zünder aus der Bombe gesprengt: Dafür bohrt Püpke zwei Löcher nah am Zünder und füllt sie mit Sprengstoffkabel. Eine gezielte Sprengung lässt den Mantel des Blindgängers aufplatzen, der Zünder fliegt heraus - ohne dass das TNT innerhalb der Bombe explodiert. Da das Risiko besonders hoch ist, dabei den Sprengstoff der Bombe zu entzünden, wird der Blindgänger nach Möglichkeit mit Sand abgedeckt. Danach wird der Sprengerfolg überprüft. Ist der Zünder vom Sprengstoff getrennt, hat Püpke die größte Gefahr hinter sich. Der Zünder wird dann vernichtet, der Sprengstoff im Grunewald verbrannt.
Das größte Risiko bergen britische und amerikanische Blindgänger mit Zeitzündern. 70 Jahre lagen sie in der Erde, waren konstant Wärme, Druck, Wasser ausgesetzt. Kommen die Bomben zum Vorschein, verändern sich Temperatur und Luftfeuchtigkeit schlagartig, die Auswirkungen können verheerend sein. Doch nicht nur, wenn sie freigelegt wird, ist eine solche Bombe gefährlich. Im Verborgenen arbeitet die Chemie des Zünders unberührt und unbemerkt. Innerhalb des Langzeitzünders sind höchst empfindliche Stoffe eingesetzt: Ein Schlagbolzen wird durch Zelluloidscheiben gehalten. Zerbröselt das Zelluloid, schiebt eine Spiralfeder den Bolzen nach vorne - die Bombe explodiert. Theoretisch, so bestätigt Püpke, sei bei Blindgängern dieser Art eine "Selbstdetonation jederzeit möglich". Bisher gab es in Berlin erst eine Selbstdetonation in den achtziger Jahren. "Aber mit der fortschreitenden Zeit wird dieses Risiko immer größer."

Ein toter Sprengstoffexperte im Einsatz pro Jahr
Seit elf Jahren ist Dietmar Püpke Polizeifeuerwerker. Schon als Kind habe er sein Spielzeug auseinandergenommen, um den Aufbau zu verstehen, sagt er. Der ausgebildete Maschinist ist nach dem Militärdienst Polizist geworden. Mit 30 ging er dann ein zweites Mal in die Lehre, er wollte Feuerwerker werden. Seinen 35. Geburtstag hat Püpke mit Kollegen auf dem Müggelsee verbracht: Sie fischten Bomben aus dem Wasser, versenkt von Sowjetsoldaten in der DDR. "Nach sechs Bomben à 50 Kilogramm haben wir erst mal aufgehört zu zählen", erinnert sich Püpke. Am Ende waren es 25.
Im Flur vor Püpkes Büro hängt eine Ikone der Heiligen Barbara, die Schutzheilige der Feuerwerker. Im Durchschnitt stirbt jedes Jahr bundesweit ein Sprengstoffexperte im Einsatz. Elf sind es seit dem Jahr 2000, die beim Versuch, Weltkriegs-Blindgänger unschädlich zu machen, ihr Leben ließen. Erst 2010 starben drei Menschen, als in Göttingen die Entschärfung einer Zehn-Zentner-Bombe mit Säure-Langzeitzünder fehlschlug. Dass die Bomben nach wie vor gefährlich sind, zeigte sich auch Anfang Januar, als eine Fliegerbombe im nordrhein-westfälischen Euskirchen einen Baggerfahrer in den Tod riss.

Wie geht man mit dem Risiko um, das dieser Beruf mit sich bringt? "Wer als Feuerwerker Dienst verrichtet, weiß, dass sich das zum Nachteil von Leben und Gesundheit wenden kann", kommentiert Püpke gewohnt nüchtern. Es klingt, als zitiere er eine Warnvorschrift. Es zeigt: Die Gefahr der Bombe ist für Dietmar Püpke eine abstrakte Größe, seine emotionale Ruhe berührt sie nicht.

"Du akzeptierst, dass es Krieg war."

Seinen Frieden machen. "Du siehst ein, dass es Krieg war", sagt Jeff Gray heute zu seinen Einsätzen.
Seinen Frieden machen. "Du siehst ein, dass es Krieg war", sagt Jeff Gray heute zu seinen Einsätzen.

© Privat

Jeff Gray lebt heute mit seiner Frau, die er im Krieg kennengelernt hat, in einer Kleinstadt westlich von London in einem efeubewachsenen Haus. Nach dem Krieg flog Gray jahrzehntelang Linienflugzeuge. 2008 betrat der ehemalige Bomberpilot zum ersten Mal Berliner Boden. Als "Last man standing" spendete er für den Erhalt der Gedächtniskirche, die 1943 durch britische Bomben zerstört worden war, insgesamt 700 Euro - 100 Euro für jeden seiner mittlerweile verstorbenen Kameraden und sich selbst. Die von ihm und seiner Crew abgeworfenen Bomben haben Menschenleben gekostet. Hat er heute Frieden mit seinen Taten vor 70 Jahren geschlossen? "Ja, ich denke schon", sagt er, "du akzeptierst, dass es Krieg war. Es ging ums Überleben. Deswegen tust du, was notwendig ist. Erst später denkst du: Oh, mein Gott. Warum haben wir das getan?" Waren die Bomben also sinnlos? "Sie waren schrecklich! Und sie waren zwecklos. Denn die Zivilisten, die einfachen Bürger haben uns bezwungen: Sie standen morgens auf, löschten die Feuer, fegten die Straßen und gingen arbeiten. So kann man keinen Krieg gewinnen." Dass die Bomben von damals die Blindgänger von heute sind, sagt Jeff Gray noch, tue ihm leid. "Bitte sagen Sie Dietmar, dass er vorsichtig sein und gut auf sich aufpassen soll bei dieser gefährlichen Arbeit!" "Diese Herzlichkeit rührt mich", sagt Dietmar Püpke. "Ein solcher Wunsch ist unter Feuerwerkern üblich. Aber dass er von ihm kommt, schließt für mich einen Kreis." Für Püpke ist die Frage der Bomben aber ohnehin keine Frage der Schuld: "Es war Krieg, da hatte man keine Wahl."

Im Berliner Grunewald, auf dem Gelände der Abteilung für Kampf- und Explosivstoffe des Landeskriminalamts, brennt auf einer sandigen Freifläche ein großes Lagerfeuer. Am Bildschirm überwachen die Feuerwerker den Brand, niemand darf diesen Teil des Geländes jetzt betreten. Zwei Mal im Jahr finden über vier Wochen große offizielle Sprengungen statt. Immer mittwochs ist dann die A115 aus Sicherheitsgründen kurzzeitig gesperrt. Im Feuer verbrennen nun die letzten Kampfstoffe der vorangegangenen Herbstsprengung. Der Rückweg vom Sprengplatz, zurück in die Stadt der 3000 in der Tiefe schlummernden Bomben, führt wieder über die Avus, diesmal ohne Nebel. Im Radio berichtet der Sprecher über die erfolgreiche Beseitigung eines Blindgängers in Brandenburg. Nach den Nachrichten möchte ein Hörer mit einem Song seine Kollegen grüßen. Er wünscht sich einen Titel von ACDC: "TNT - I’m Dynamite".

Der Text erschien in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Karoline Kuhla

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