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Gefährliche Nähe. Stehen die Bäume ohne Schutzplanken weniger als 4,5 Meter von der Straße entfernt, soll die Geschwindigkeit nun auf 70 km/h begrenzt werden.

© dpa

Brandenburg: Bald Tempo 70 auf vielen Alleen

Wegen des Unfallrisikos sollen Straßen entschärft werden. Die örtlichen Ämter stellt das vor Probleme.

Auf vielen brandenburgischen Alleen soll es gemächlicher, aber auch sicherer zugehen. Künftig sollen Autofahrer nur noch 70, statt wie höchstens 80 oder 100 Stundenkilometer schnell fahren dürfen. So sieht es ein Runderlass der beiden brandenburgischen Ministerien für Infrastruktur und Inneres vor. Die Landesregierung will mit dem Tempolimit die immer noch hohe Zahl von Unfällen in den Alleen senken. „2010 starben auf unseren Straßen 192 Menschen, davon 78 an einem Baum“, sagte Infrastrukturminister Jörg Vogelsänger (SPD). „Mit diesem Zustand will ich mich nicht abfinden.“ Noch immer ist das Risiko, bei einer Kollision mit einem Baum auf Strecken ohne Leitplanken zu sterben, in Brandenburg höher als in anderen Bundesländern. Ein flächendeckendes Tempolimit lehnt Vogelsänger aber ab. Allerdings will der Minister mit dem Erlass den zuständigen Landkreisen ein Werkzeug an die Hand geben, um gezielt gefährliche Streckenabschnitte zu entschärfen.

In den Behörden vor Ort sorgt der Erlass für eine gewisse Ratlosigkeit, wie etwa beim Landratsamt von Potsdam-Mittelmark. Dort hält man die komplizierten Vorgaben für nicht umsetzbar. Schon der Titel lässt ahnen, wie kompliziert die Umsetzung für die Verkehrsbehörde des Landkreises werden könnte: „Runderlass zur Erhöhung der Verkehrssicherheit auf Straßen mit angrenzendem dichten Baumbestand ohne vorgelagerte Fahrzeug-Rückhaltesysteme außerhalb geschlossener Ortschaften im Land Brandenburg“.

Im Klartext: Stehen die Bäume ohne Schutzplanken weniger als 4,5 Meter entfernt von der Fahrbahn, muss die Straßenverkehrsbehörde ein Tempolimit von 70 Stundenkilometern anordnen. Bedingung ist jedoch ein dichter Baumbestand. Der liegt laut Runderlass vor, wenn an beiden Fahrbahnrändern auf einer Strecke von 500 Metern mindestens 15 Bäume stehen, die einen Stammumfang von wenigstens 25 Zentimetern haben. Angesagt ist jetzt eine Einzelfallprüfung an allen mittelmärkischen Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften.

„Vom Prinzip her müssen die Mitarbeiter unserer Verkehrsbehörde jetzt mit dem Maßband losziehen und jeden einzelnen Baum messen“, erklärte die Sprecherin des Landratsamtes, Andrea Metzler. Der Runderlass ist bereits in Kraft getreten, noch in diesem Jahr sollen die ersten Schilder aufgestellt werden. Wie lange es jedoch insgesamt dauern werde, die vom Land gestellte Aufgabe zu bewältigen, sei noch unklar, hieß es in der Kreisverwaltung von Potsdam-Mittelmark. Bisher gebe es auch noch keine Vorstellung darüber, wie viele Straßenkilometer davon betroffen sein könnten. Die Kosten der Bestandaufnahme seien wahrscheinlich enorm. Für Landrat Wolfgang Blasig (SPD) ist der Runderlass ein erneutes Beispiel dafür, „wie die Lasten staatlicher Aufgaben auf die Kommunen verlagert werden“.

Vogelsänger dagegen beruft sich auf erschreckende Zahlen. Seit 1995, als die Baumunfälle in Brandenburg erstmals registriert wurden, und bis Ende 2010 starben 2926 Menschen bei Baumunfällen, das ist die Hälfte aller in diesem Zeitraum auf Brandenburgs Straßen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommenen Menschen. Im Jahr 2010 waren nur drei Prozent aller Unfälle reine Baumunfälle. Aber knapp 40 Prozent aller Verkehrstoten starben an einem Baum. Bei der Zahl der besonders schweren Baumunfälle verzeichneten die Behörden zudem einen dramatischen Anstieg von 837 im Jahr 2008 auf 1007 im vergangenen Jahr.

Eine mehrjährige Auswertung von Unfällen habe ergeben, dass es sogenannte Baumunfälle nicht nur auf bestimmten Schwerpunktstrecken gebe, heißt es seitens der Ministerien. Die Unfälle würden sich im erheblichen Umfang über fast das gesamte überörtliche Straßennetz im Land Brandenburg, aber kaum auf örtliche Schwerpunkte konzentrieren. Eine Höchstgeschwindigkeit von 100 oder 80 Stundenkilometern sei deshalb an vielen Stellen nicht mehr zu vertreten.

Im Vorfeld des Runderlasses hatte Innenminister Dietmar Woidke (SPD) erklärt: „Wir wollen unsere Alleen erhalten, aber sie müssen sicherer werden.“ Nötig seien mehr Leitplanken und ein Tempolimit. „Wo links und rechts Bäume stehen, da ist Tempo 100 eindeutig zu viel“, so Woidke. Schon ein normaler Wildunfall, der auf einer freien Strecke glimpflich ausgehe, habe in einer Allee schwerere Folgen.

Die Überlebenschancen bei einem Baumunfall steigen mit geringerem Tempo rapide. Allein durch ein von 100 auf 70 Stundenkilometer herabgesetztes Tempolimit werde die Stärke des Aufpralls auf einen Baum um die Hälfte gesenkt, hieß es. Und es gibt einen Nebeneffekt, den die Behörden bei Messungen festgestellt haben: Bei Tempo 70 wird das Limit seltener mit bis zu 20 Stundenkilometern überschritten – und zwar nur zu drei Prozent. Bei Tempo 100 sind fast ein Viertel aller Fahrer deutlich schneller.

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