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Brandenburg: Thrill-Fahrer auf Suche nach Lust und Angst

Am Wochenende hat die Polizei wieder einmal hunderte Verkehrsunfälle aufnehmen müssen.Mehr als 70 Personen wurden verletzt, ein Mensch kam ums Leben.

Am Wochenende hat die Polizei wieder einmal hunderte Verkehrsunfälle aufnehmen müssen.Mehr als 70 Personen wurden verletzt, ein Mensch kam ums Leben.Nur zum Teil lassen sich die erschreckenden Zahlen mit dem Wintereinbruch erklären.Bekanntermaßen ist die Neigung zu abenteuerlichem Fahrstil in Brandenburg weit verbreitet.Warum das so ist, untersucht Karin Müller, die als Verkehrspsychologin beim TÜV in Brandenburg arbeitet.Sie beschäftigt sich dort unter anderem mit der Frage, was hinter den sich häufenden Verkehrsunfällen vor allem junger Fahrer steckt.Mit Müller sprach Jeannette Goddar.

TAGESSPIEGEL: 415 Menschen starben in diesem Jahr bis Ende Oktober in Brandenburg bei Verkehrsunfällen.Wie stellt sich die Zahl im bundesweiten Vergleich dar?

MÜLLER: Brandenburg führt eindeutig die Statistik tödlicher Verkehrsunfälle an, gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern.Doch auch im europäischen Vergleich haben wir inzwischen sogar Portugal, das lange auf Platz eins stand, überholt.Noch auffälliger wird die Spitzenposition, wenn man lediglich die klassischen Wochenendunfälle, mit denen wir es hier zu tun haben, betrachtet.

TAGESSPIEGEL: Als eine wesentliche Ursache wird auf die schlechte Beschaffenheit vieler Straßen sowie die unzähligen Bäume am Wegesrand verwiesen.Wenn ich mir portugiesische Straßen vorstelle, muß dieses Argument doch stutzig machen.

MÜLLER: In einem Flächenstaat mit vielen Alleen ist die ojektive Wahrscheinlichkeit, zu verunglücken, natürlich höher als in einer Industriezone.Aber Unfälle haben immer auch etwas mit den Menschen zu tun, die sie verursachen.

TAGESSPIEGEL: Was weiß man über die Fahrer - außer daß sie jung sind und oft reichlich Alkohol genossen haben?

MÜLLER: Viele sind sogenannte Thrill-Fahrer, auf der Suche nach einer Mischung von Lust und Angst.Sie bringen sich bewußt in eine Grenzsituation, sehen bei 160 Stundenkilometern die Bäume an sich vorbeifliegen und hoffen, daß es gut geht, haben aber gleichzeitig richtig Angst.Andere aber sind schlicht unerfahren und wissen nicht, wie ihr Auto auf nasser Fahrbahn reagiert.

TAGESSPIEGEL: Sind es die ganz normalen Jugendlichen vom Bankangestellten bis zum Hauptschüler, die so fahren?

MÜLLER: Bankangestellte gibt es sicher sehr wenige.Wir haben es eher mit Leuten zu tun, die Jobs machen, in denen sie nicht viel Sinn sehen, ihre Schule oder Lehre abgebrochen haben oder arbeitslos sind.Generell hat der allergrößte Teil kein besonders hohes Bildungsniveau.Ihr Auto ist für viele ihr Lebensinhalt, und nicht ihr Vehikel.Sie fahren und rasen durch die Dörfer, weil es Spaß macht.Ihre Straße ist ihr Freiraum, wo sie meinen, wenigstens da können sie machen, was sie wollen.

TAGESSPIEGEL: Und im normalen Leben halten sie sich an die Regeln?

MÜLLER: Leute, die ein hohes Punktekonto haben, sind häufig auch vorbestraft.Sie wollen oder können sich insgesamt nicht an gesellschaftliche Normen halten, haben vielleicht auch gar nicht das Bewußtsein dafür, warum sie das tun sollten, weil sie ohnehin keine Perspektive für ihr Leben sehen.

TAGESSPIEGEL: Unfälle als Ausdruck der gesellschaftlichen Krise?

MÜLLER: Ich denke schon, daß Unfallzahlen auch gesellschaftliche Ursachen haben.Es ist ja auch auffallend, daß ausgerechnet Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern an der Spitze liegen: Beides sind im Vergleich zu anderen wenig industrialisierte Länder mit hoher Jugendarbeitslosigkeit.

TAGESSPIEGEL: Würden Sie soweit gehen, die tödlichen Unfälle als Ausdruck einer versteckten Todessehnsucht zu deuten?

MÜLLER: Das ist schwierig.Es gibt Untersuchungen, laut denen überdurchschnittlich viele Unfälle von potentiellen Selbstmördern verursacht werden.Aber beweisen kann man das letztlich nicht.

TAGESSPIEGEL: Das Verkehrsministerium reagiert mit mehr Tempo-80-Straßen und Kontrollen.Bekommt man das Problem so in den Griff?

MÜLLER: Damit erreicht man zumindest den großen Teil derer, die noch bereit sind, sich an Regeln zu halten.An eine bestimmte Gruppe der Raser kommt man allerdings so nicht heran - wer bei Tempo 100 bis zu 200 fährt, wird das wohl auch bei Tempo 80 tun.

TAGESSPIEGEL: Was schlagen Sie als zusätzliche Maßnahmen vor?

MÜLLER: Die Fahrlehrer haben einen Vorschlag gemacht, der mir sehr sinnvoll erscheint.Sie raten, Jugendliche, die innerhalb der Probezeit auffällig werden, noch einmal zu einem Training zu schicken.Dieses sollte einen praktischen Teil haben, also Fahren in Grenzsituationen, Schleudertraining und ähnliches.Andererseits ist aber auch die psychologische Schulung wichtig.Wir wissen das aus der Nachschulung von Alkoholtätern, die wir beim TüV machen: Wenn man Jugendliche in eine Situation bringt, in der sie begreifen, warum sie sich in Gefahr bringen, wird ihnen oft vieles klar.Manche werden dabei zum ersten Mal mit sich selbst konfrontiert.

JEANNETTE GODDAR

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