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Berlin: Brigitta Stolz (Geb. 1956)

Sollen Frauen im Gefängnis auf die Gnade „des Herrn“ hoffen?

Von David Ensikat

Ist der Heilige Geist ein Mann? Ist Gott einer? „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, das klingt jedenfalls sehr männlich.

Man mag eine Frau, die auf so etwas achtet, die deshalb lieber von der „Göttin“ spricht, belächeln. Das fällt besonders leicht, wenn es sich um eine handelt, die bunte Tücher in den Haaren trägt und die noch in Zeiten, in denen Alice Schwarzer für die „Bild“-Zeitung wirbt, auf die kämpferische Endung-Innen Wert legt: BeamtInnen, FeministInnen, PfarrerInnen.

Brigitta Stolz war so eine, und das nicht nur, weil sie Ende der Siebziger studiert hatte und weil sie zum linken, christlich-feministischen Milieu gehörte. Sie war so eine, weil sie erlebt hatte, wie angemessen und wie notwendig diese Sicht der Dinge sein kann.

Sandy, 24, im Knast wegen schwerer Körperverletzung, wurde von diversen Stiefvätern geschlagen, von ihrer Mutter immer wieder ins Heim gegeben, dann hat sie einer vergewaltigt und schwer im Gesicht verletzt. Ilona, 34, im Knast, weil sie Männern Beruhigungsmittel ins Glas gekippt und sie dann bestohlen hat, von ihrem Vater vergewaltigt, als sie neun war; die Angst vor ihm ist sie nicht losgeworden, ihr Kind gab sie zur Adoption fort. Ulrike, 26, im Knast, weil sie geklaut hat, um sich Drogen zu beschaffen, musste zusehen, wie der besoffene Vater ihre Mutter schlug, und kam dann selbst von einem Mann nicht los, der sie schlug.

Mit solchen Frauen hatte Brigitta Stolz zu tun, jahrelang. Dutzende solcher Schicksale, hunderte, hat sie sich angehört. Für solche Frauen hat sie Gottesdienste veranstaltet. Sollte sie da vom „Vater“ und vom „Sohn“ sprechen? Sollte sie den Frauen empfehlen, auf die Gnade „des Herrn“ zu hoffen?

Brigitta Stolz war Pfarrerin in den Berliner Frauengefängnissen, Seelsorgerin.

Seelsorge – ein gutes Wort für das, was Brigitta Stolz für die Frauen tat. Für deren Sünden hatte die Justiz sich interessiert, für die Strafe, den Ausschluss aus der Gesellschaft. Für ihre Seelen war die Justiz nicht zuständig. Das war Brigitta Stolz’ Beruf. Arbeitsteilung.

Ein Gottesdienst im Knast, Beten und Singen in der Justizvollzugsanstalt. Ein Mehrzweckraum mit Gittern an den Fenstern ist Kapelle, ein Getränkekistenstapel mit bunten Tüchern drüber ist Altar. Rote Gladiolen, Kerzen, eine Bibel. Die Stühle der Gemeinde stehen im Kreis. Ist das eigentlich eine Gemeinde? Kein Mensch lebt freiwillig an diesem Ort. Die wenigsten kommen in den Gottesdienst, weil sie an Gott glauben, noch weniger, weil sie Gott dienen wollen. Sie kommen, weil sie wissen, dass hier das Gegenteil dessen geschieht, was das Gefangenenleben ausmacht. Es geht nicht um Strafe, sondern um Lohn. Die Pfarrerin will den Frauen zeigen, dass die Welt etwas für sie übrig hat. Sie erzählt ihnen von den Frauen aus der Bibel, Sünderinnen, Heiligen, sie erzählt auch von sich selbst; und immer geht es um das eine: Es existiere ein Sinn in allem. Was geschehe, sei am Ende gut.

Wo wäre die frohe Botschaft unglaubwürdiger – und notwendiger als an diesem Ort? Das weiß Brigitta Stolz, und deshalb hält sie sich nicht an die starre Liturgie, die Gebete wandelt sie ab, statt des schwarzen Talars, der aussieht wie die Robe des Richters, trägt sie weiße oder farbige Gewänder, sie lässt die Frauen Kerzen anzünden, sie lässt die Frauen selbst sprechen. Es wird gelacht und noch viel mehr geweint. Manchmal kommt die Pianistin, eine alte Frau, die seit Jahren in den Gefängnisgottesdiensten die Lieder begleitet, zur Pfarrerin und sagt, dass sie solche Spiele nicht mehr länger mitmachen wolle, mit Kirche habe das nichts mehr zu tun.

Tatsächlich hat Brigitta Stolz’ Arbeit wenig mit der Kirche zu tun. Deshalb tut sie sie ja, jenseits aller Konfessionen, alle Konfessionen einbeziehend. Von der Kirche hat sie sich nach dem Theologiestudium für einige Jahre abgewandt, sie arbeitete als Krankenschwester. Dass die Kirche eine Institution mit etlichen Fragwürdigkeiten ist, kann Brigitta Stolz in der Gefangenenseelsorge gut vergessen. Im „Justizvollzug“ hat sie es mit einer anderen Institution zu tun, von der sie weiß: Sie ist dumm und falsch und teuer. Sie arbeitet im Knast, weil sie den Knast ablehnt. Je mehr Frauen sie dort kennenlernt, je öfter sie erfährt, wie wenig die Justizakten mit den Schicksalen zu tun haben, wie trügerisch die Hoffnung ist, dass mit der Strafe eine Läuterung einhergehen würde, desto sicherer ist sie sich.

Sie will kein Teil des „Systems Gefängnis“ sein, sie sagt, sie sei für die Gefangenen da, für niemanden sonst. Doch sie besitzt die Schlüssel zu den Gefängnistüren, sie schließt, wenn sie die Zelle nach dem Gespräch verlässt, die Tür hinter sich zu. Die Anstaltsleitung vertraut ihr.

Wie erträgt sie das? Zwischen allen Stühlen, ergeben den einen, loyal gegenüber den anderen. Nicht selten von den einen belogen, ausgenutzt, von den anderen beargwöhnt. Wohl, weil sie hier helfen kann. Direkter, spürbarer als draußen, durch Gesten, Zuhören, durch dosierte Regelverstöße, durch ihre Gottesdienste. Der Pfarrer draußen wartet auf seine Schäfchen, von denen viele zu ihm kommen, weil sie das schon immer getan haben. Die Pfarrerin im Knast, wenn sie eine gute ist, wird erwartet. Selbst die Ungläubigsten brauchen sie.

In allem, was geschieht, liege ein Sinn, das versuchte sie den Frauen klarzumachen. Vielleicht war es der Sinn ihrer Blutkrankheit vor drei Jahren, dass sie den Dienst im Gefängnis aufgab. Womöglich hat er sie viel mehr mitgenommen, als ihr frohes Wesen vermuten ließ. Mehr als zehn Jahre diese Last, diese Verantwortung, diese Schicksale.

Sie überstand die Therapie, sie kletterte auf einen Berg im Elbsandsteingebirge und sie brüllte, so laut sie konnte: „Ich lebe!“ Das Echo bestätigte ihr das.

Zweieinhalb Jahre später brach die Krankheit wieder aus. Ihr Mann und ihre Söhne und die vielen Freunde suchen nach dem Sinn. David Ensikat

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