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Berlin: Brigitte Czoske (Geb. 1951)

Es reichte für ihre Wohnung, ein Fahrrad und einen Yoga-Raum

Keine Stunde glich der anderen, abgesehen von der festen dreigliedrigen Struktur. Der Gong ertönte, sie hielt eine kurze Ansprache. Die Schülerinnen und Schüler lagen auf dem Rücken und legten die Beine hoch an die Wand. Dann begann der einstündige Übungsteil, ein abwechslungsreicher Parcours durch die fantastische Figurenwelt des Yoga. Es wurden Atemübungen absolviert, und den Abschluss bildete „Shavasana“, die Totenstellung. Nicht jeder mochte die dunklen Kammern betreten, die sich bei dieser Form der Entspannung öffneten. Aber alle kamen zur nächsten Stunde, Woche für Woche, Jahr für Jahr.

Als sie mit Yoga begann, Mitte der siebziger Jahre, hielten das die meisten noch für indischen Hokuspokus. Ihr halfen die Übungen, nicht nur mental, sondern vor allem körperlich. Eine heftige Skoliose beeinträchtigte sie seit der Kindheit. Die Orthopäden hatten sie jede Nacht ins Gipsbett gesteckt, um ihre Wirbelsäule zu begradigen. Spätestens mit ihrem 35. Lebensjahr, so hieß es, würde sie im Rollstuhl sitzen. Dass es anders kam, lag ganz gewiss daran, dass sie sich mit Hingabe dem indischen Hokuspokus widmete.

Im Yoga kamen mit den Jahren die unterschiedlichsten Schulen und Moden auf. Sie ließ sich davon nicht beirren und lernte und lehrte stets das klassische „Hatha-Yoga“. In ihren Kursen blieb der Männeranteil überschaubar. Dennoch erreichte die große Selbstoptimierungswelle auch die Männerwelt. Der moderne Mensch, so wusste sie, steckt in einer neuen Art von Gipsbett.

Für ihre Stunden nahm sie verschwindend wenig Geld, nie mehr, als sie selbst zum Leben benötigte. Fiel eine Stunde wegen eines Feiertages aus, reduzierte sie den Monatsbeitrag. An den Wochenenden arbeitete sie in der Altenpflege, um etwas dazuzuverdienen. Es reichte für ihre Wohnung, ein Fahrrad und einen Yoga-Raum. Regelmäßig erstellte sie Horoskope und meinte es auch durchaus ernst mit der Astrologie. Gemessen daran, was ihr die Ärzte prophezeit hatten, waren ihre Sternatlanten keinen Millimeter ungenauer.

Das Fahrradfahren war für sie die perfekte Form der Fortbewegung; erst als Erwachsene hatte sie es gelernt, zunächst auf einem Dreirad. Im Grunde war sie fürs Leben in der Großstadt perfekt eingestellt: hatte keine großen Dinge zu verstauen, denn sie besaß nicht viel, konsumierte wenig, exzellente CO2-Bilanz und ein Kopf voller Tatendrang und Erlebnishunger. Jedes Jahr lud sie ihre Gruppen zur mehrtägigen Yoga-Fahrt oder auch mal zur meditativen Schweigewoche. Meistens ging es ins Brandenburgische, wo sie ihren Adepten die Augen verband und sie, an eine Leine geknüpft, durchs Dorf führte. Sie sollten das Hören und Riechen lernen. Die Dorfbewohner wussten nicht so recht, was sich da abspielte, und schüttelten den Kopf: Stadtmenschen.

Es war aber eine durchaus ernst gemeinte Meditationsform, wenngleich Frohsinn und Lachen sehr wohl zu ihrer Lehre gehörten. Wenn in der Yoga-Stunde alle den „Löwen“ machten und mit den Augen rollten und die Zunge weit herausstreckten, blieb das Komische gar nicht aus. „Lachen ist die beste Form der Atmung!“, sagte sie.

Erst spät ließen die Kräfte ihres Rückens nach und sie benötigte einen Rollator. Am Tag, an dem sie ihr Fahrrad verkaufte, war sie zu Tode betrübt. Die Yoga-Übungen konnte sie nun nicht mehr vormachen, aber eine gute Yoga-Lehrerin kann auch mit Worten exakt beschreiben, worin der Unterschied zwischen „Kobra“ und „heraufschauendem Hund“ besteht. So leitete sie an, bis ganz zum Schluss und auch noch mit der künstlichen Hüfte. Auf einem Foto sieht man sie am Strand von Ahrenshoop: das sanfte Lächeln, die Lebensfreude und die unauffällig hinterm Rücken versteckten Gehhilfen.

Ihren letzten Weg ging sie ganz frei und auf eigenen Beinen. Auf dem Weg von ihrer Wohnung zum zwei Kilometer entfernten Yoga-Raum jauchzte sie förmlich zum Himmel hinauf. Dann aber, zwischen zwei Übungsstunden, platzte ein Aneurysma in ihrem Kopf. Zwei Wochen lag sie im Krankenhaus, ohne Bewusstsein. Und legte die neuerlichen Fesseln der irdischen Immobilität ganz ab und wechselte – wer weiß das schon, wohin – womöglich in die nächst höhere Bewusstseinsstufe.

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