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Berlin: Bruno Schleinstein (Geb. 1932)

"Welche Farbe hat das Gewisssen? Wissen Sie das?"

Mit Stetson- Hut ist er aufgetreten, die Augen zugekniffen, die Stimme aufgeraut. Ein kleiner Mann, dem alles langsam von der Hand ging. Auch das Singen trauriger Lieder aus schlimmen Zeiten. Bevorzugt auf Berliner Hinterhöfen. Bevor er Fragen beantwortete, wenn mal ein Journalist daherkam, sang er meistens „Die Gedanken sind frei“, alle fünf Strophen: eine Warnung vor dem gesprochenen Wort und dem, was es verbergen kann.

Bruno S. war sein Künstlername, zu sehen auf einem Filmplakat aus dem Jahr 2003. „The Rise & Fall of the former Werner-Herzog-Star“. Zwei Filme hatte er mit Herzog gedreht. Der erste machte ihn kurz weltberühmt. Er spielte die Rolle seines Lebens, den Kaspar Hauser in „Jeder für sich und Gott gegen alle“. Da saß er beim Filmfestival in Cannes vor großem Publikum, als Hauptdarsteller eines außerordentlichen Films. „Ich habe heute zum ersten Mal das Meer gesehen“, sagten Bruno S. und Kaspar Hauser, und durch die Ränge ging ein Raunen. Jetzt bin ich angekommen im Leben der anderen, dachte Bruno, und Teil einer großen Filmfamilie. Herzog gab ihm noch eine Rolle, danach war es mit dem Ruhm vorbei.

Bruno S. kehrte zurück in sein Berliner Schicksal, das eines Gedankenschweren und Vereinsamten, eines Alkoholikers und Außenseiters. Manche hielten ihn für einen Autisten. Auf Herzog war er nicht mehr gut zu sprechen: „Bruno ist doch nur ein Wegwerfartikel.“

Er sprach lieber in der dritten Person von sich, als könne er sich so vor zudringlichen Menschen schützen. Fast 20 Jahre lang hatte er in Heimen gelebt, auch während des Krieges. Was er dort erlitt, versenkte er in einer Kapsel tief in seinem Innern. Mit acht, 1941, kam er in die „Wittenauer Heilstätten“, wo Ärzte mit Impfstoffen an vermeintlich geistesschwachen Kindern herumexperimentierten. Es existieren Dokumente, die das belegen, doch Bruno konnte nicht viel mit Dokumenten anfangen. Ein Freund kam auf die Idee, eine Entschädigung zu beantragen. Da war es schon fast zu spät.

1956 wurde Bruno als geheilt in die Gesellschaft entlassen. Er flüchtete aus der DDR nach West-Berlin, wurde nach Süddeutschland ausgeflogen, arbeitete bei einem Bauern, ging auf Trebe und landete wieder in West-Berlin, wo er Arbeit bekam. Die meiste Zeit fuhr er den Gabelstapler bei Borsig. Zum Singen schwermütiger Lieder nach Schichtende kam das Schreiben und später das Malen, alles selbst beigebracht. In seiner verrumpelten Wohnung experimentierte er mit Farbeffekten. Er spannte bunte Pappstreifen auf eine Schleifmaschine und ließ sie rotieren. Bruno nannte das „stufenlose Tonleiter“, weil er Farben als Töne wahrnahm und umgekehrt. Auch die Wörter, besonders die abstrakten, tunkte Bruno in einen Farbtopf, um sie sichtbar zu machen. „Welche Farbe hat das Gewissen? Wissen Sie das? Sehen Sie, das kann mir niemand beantworten.“

Mit seinen Bildern suchte er nach den Verletzungen der frühen Jahre. Eins zeigt Berlin in Flammen. Damals, im April 1945, rückte er aus dem Heim aus, zu seiner Mutter. Die wollte ihn aber nicht aufnehmen. Also schlief Bruno, als die Bomben fielen, in fremden Häusern auf dem obersten Treppenabsatz. Ein anderes Bild zeigt einen Arzt im schwarzen Kittel, der mit der Hand in das Herz seines Patienten greift. Seine Bilder und Zeichnungen wurden in Galerien ausgestellt und einige davon verkauft. Das freute Bruno.

In seiner Wohnung häuften sich die Dinge an, Brunos Gefährten. Kafferöstmaschinen, Holzpferdchen, Modelllokomotiven. Ein Flügel, viele Akkordeons und Messingglocken. Für Sitzgelegenheiten fehlte der Platz. Bruno stand gerne.

Langsam, sagen Freunde, löste sich Bruno mit Hilfe der Kunst aus seiner Isolation, wurde den Menschen um ihn herum ähnlicher. Sein Kommentar: „Als ich Mensch wurde, musste ich sterben.“

Vorher söhnte er sich noch mit Werner Herzog aus. Während der Berlinale im Februar trafen sie sich in der Stadtklause am Anhalter Bahnhof, Brunos Stammkneipe. Der Wirt hatte die Fäden gezogen. Der große Regisseur und sein Kaspar Hauser umarmten sich. Wer Brunos Menschenscheu und Misstrauen kannte, hätte das kaum für möglich gehalten.

Schließlich ging es um die Pflegestufe. Bruno konnte das schwere Akkordeon nicht mehr halten. Seit Monaten zog er nicht mehr um die Häuser. Untersuchungen? Pflegeheim? Er hatte Angst, dass es wieder so kommt wie früher. Der Gutachter war unterwegs, da lag Bruno schon reglos in seiner Wohnung. Die Seele ausgebüxt. Thomas Loy

Das Kino Babylon zeigt ab 30. August vier Filme mit Bruno S.

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