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Mareike Geiling, Gründerin der WG-Vermittlungsseite „Flüchtlinge Willkommen“.

© Verena Eidel

Buchpremiere in Berlin: 111 Berliner, die man kennenlernen sollte

Kein Wowereit, kein Udo Walz, kein Harald Juhnke: Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel haben 111 Berliner ausgewählt, die besondere Geschichten erzählen. Heute kann man viele von ihnen am Moritzplatz treffen.

Träumen sie nicht langsam von dieser Zahl? Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel lachen gleichzeitig los. Nein, so weit ist es zum Glück noch nicht. „Aber wenn ich die 111 irgendwo sehe, denke ich immer, das hat etwas mit mir zu tun“, sagt von Seldeneck. Hat es ja auch, ziemlich viel sogar. Ihr Buch „111 Orte in Berlin, die man gesehen haben muss“ von 2011 ist das erfolgreichste dieser Reihe des Emons-Verlags mit mehr als 105 000 verkauften Exemplaren. Es folgten ein gleichnamiger zweiter Teil und „111 Orte in Berlin, die Geschichte erzählen“.

Und jetzt – never change an Erfolgskonzept – haben sich Redakteurin Lucia Jay von Seldeneck und Fotografin Verena Eidel etwas Neues ausgedacht: Nachdem sie Berlin von allen Seiten durchmessen haben, widmen sie sich nun den Bewohnern. Gerade ist „111 Berliner, die man kennenlernen sollte“ erschienen, am Donnerstag veranstalten sie im Aufbauhaus am Moritzplatz eine Performance-Lesung mit einigen der Protagonisten.

Nur Carolin Huder ist nicht mehr dabei. Die Co-Autorin der anderen Bücher hatte diesmal zu viel zu tun – und wenn man wie diese Damen den Anspruch hat, immer im Team aufzutreten, bei jedem Interview, jedem Fototermin, dann kann so eine Buchveröffentlichung schon mal hektisch werden. So sitzen sie nun also zu zweit in einem Büro im Heimathafen Neukölln, wo sie hauptberuflich tätig sind, und lachen gemeinsam ins Telefon.

Drei Jahre haben sie sich für ihr neues Buch Zeit gelassen. „Es braucht viel mehr Zeit, sich auf die Menschen einzulassen, als wenn man nur Orte abklappert“, sagt von Seldeneck. Mit jedem haben sie sich getroffen, sind jedesmal in eine neue kleine Welt eingetaucht und mussten diese dann reduzieren auf genau eine Seite Text und ein Foto. Entstanden sind 111 wunderbare kleine, völlig unerwartete Porträts. Sie hätten lange diskutiert, wie sie denn sein sollten, ihre Berliner: Tot oder lebendig? Berühmt oder nicht? In Berlin geboren?

Meryem Ergolu, erklärt Besuchern, wie das Leben in Neukölln ist.
Meryem Ergolu, erklärt Besuchern, wie das Leben in Neukölln ist.

© Verena Eidel

Von Klavierhelmut bis zum Prinzenbad-Bademeister

Sie entschieden sich für den Weg, der auch die anderen Bücher dieser Damen schon so charmant und weniger erwartbar als vergleichbare Werke gemacht hat. Kein Wowereit, kein Udo Walz, kein Harald Juhnke. Lebendig sollten ihre Berliner sein, Menschen, die die Stadt heute prägen – egal, welcher Geburtsort in ihrem Pass steht.

Manch ein Name sticht heraus, Heidi Hetzer vielleicht, Weltumfahrerin, Journalistin Bascha Mika, Quatschpolitiker Martin Sonneborn, Kabarettistin Idil Baydar, oder Arno Funke, besser bekannt als Dagobert, der KaDeWe-Erpresser. Und: Siehe da, die Goldelse! Wer wollte nicht immer schon mal wissen, warum die eigentlich so genannt wird.

Klavierhelmut, spielt lieber auf der Straße als allein zu Hause.
Klavierhelmut, spielt lieber auf der Straße als allein zu Hause.

© Verena Eidel

Die große Mehrheit aber sind die besonderen Geschichten der fast Normal-Berliner. „Derbe Draufgänger“, heißt es im Vorwort, die es geschafft haben, „das olle Berlin zum Nabel der Welt zu machen“.

Klavierhelmut zum Beispiel, der an schönen Tagen sein Instrument auf einen Rollwagen schnallt und dann – immer mit einer Flasche Rotwein auf dem Klavier und einer Selbstgedrehten im Mundwinkel – einfach auf den Kreuzberger Straßen spielt. Oder Mareike Geiling, die erst ihr eigenes WG-Zimmer an einen Flüchtling vermietete, woraus dann die Initiative „Flüchtlinge Willkommen“ entstand. Ein Bademeister aus dem Prinzenbad, eine Toilettenführerin, ein Grundeinkommen-Verschenker, eine Bienenzüchterin. „Es sollten Leute sein, die hier aktiv sind, die etwas zu sagen haben, sich engagieren, die mit ihren Ideen irgendwie visionär sind, etwas bewirken“, sagt von Seldeneck. Die ersten 80 sind ihnen ohne großes Nachdenken eingefallen, über Freunde, Bekannte, Nachbarn. Erst dann haben sie überlegt, ob man nicht auch gezielt Themenbereiche abdecken sollte wie Sport, Wissenschaften, Kunst und Kultur. Aber dann haben sie gemerkt, dass sich die Abdeckung eigentlich ganz gut von selbst ergeben hatte.

Joana Breidenbach, Gründerin der Spendenplattform betterplace.org.
Joana Breidenbach, Gründerin der Spendenplattform betterplace.org.

© Verena Eidel

Erika Rabau, sagt Fotografin Verena Seidel sofort, wenn man sie fragt, welche Begegnung sie am meisten bewegt habe: Ganz klar, die Berlinale-Fotografin, die kurz darauf verstarb. „Diese kleine alte Dame mit ihrem großen Rucksack, den sie immer hinter sich herschleifte, hatte diese Anziehungskraft, dass alle nur zu ihr schauten, wenn sie es wollte. Selbst Leute wie Wim Wenders.“

Bei von Seldeneck waren es eher die alten Originale wie Backmeisterin Waltraut Balzer, die jede Torte, jedes Brot, jede Streuselschnecke noch selbst backt. In der Sophienstraße verteidigt sie ihr Angebot gegen die Backshops und die Rösche ihrer Schrippen gegen die Massenproduktion ohne Geschmack – „und drinnen: Nischt!“ 1000 solcher Geschichten gebe es in der Stadt zu entdecken, sagt Lucia von Seldeneck. Und viel Skurriles natürlich auch. Einen der absurdesten Abende ihres Lebens haben sie bei Nikolai Makarov in der russischen Silvesternacht verbracht, dem „Oberrussen von Berlin“, der die legendärsten Partys der Stadt organisiert mit Kakerlakenrennen und Wodka-Brunnen. „Anastasia hat zwar nicht gewonnen“, sag Verena Eidel, „aber dafür gab es russische Folklore und David Bowie bis in die Nacht. Die Bude hat gebrannt.“

Peter Raue, Rechtsanwalt, Kunstmäzen und MoMA-nach-Berlin-Holer.
Peter Raue, Rechtsanwalt, Kunstmäzen und MoMA-nach-Berlin-Holer.

© Verena Eidel

Die Sache mit den Orten konnten sie natürlich trotzdem nicht lassen. „Es hat etwas gefehlt“, sagt Verena Eidel. Also haben sie jede der 111 Personen gefragt, was sein Lieblingsort in der Stadt ist. „Es war häufig die schönste Frage“, sagt Eidel und von Seldeneck ergänzt: „Da waren auch für uns noch einige Überraschungsperlen dabei.“ Und Friedhöfe! Sie wussten ja gar nicht, wie beliebt Friedhöfe sind. „Da gab es teilweise Doppelbelegungen und wir mussten sagen: Tut uns leid, den haben wir schon.“ Sehr beliebt war auch der Kreuzberger Viktoriapark. „Das konnten wir dann lösen, indem die Leute eine bestimmte Bank ausgewählt haben oder so.“

Andere hätten ihnen einen neuen Blick auf Altbekanntes gegeben. Die italienische Architektin Simona Malvezzi beispielsweise hat den Fußballplatz in der Auguststraße gewählt. „Mitten im Zentrum der Stadt liegt völlig überdimensioniert zwischen all den kleinen Straßen dieser große Fußballplatz. Es ist total absurd“, zitieren sie Malvezzi. Von Seldeneck ergänzt: „Das war sehr inspirierend, ein neuer Blick auf die Orte, die man eigentlich gut kennt.“

Fotografin Verena Eidel (links) und Autorin Lucia Jay von Seldeneck haben "111 Berliner, die man kennenlernen sollte", gefunden. Carolin Huder (rechts) war an diesem Buch nicht mehr beteiligt.
Fotografin Verena Eidel (links) und Autorin Lucia Jay von Seldeneck haben "111 Berliner, die man kennenlernen sollte", gefunden. Carolin Huder (rechts) war an diesem Buch nicht mehr beteiligt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Buchvorstellung am kommenden Donnerstag, 28. April, ist eigentlich eine Performance-Collage: Sechs ihrer Berliner werden auf der Bühne ihr Projekt vorstellen. Autor Klaus Bittermann liest etwas vor, „Agitationschanteuse“ Bernadette La Hengst singt, Ingenieur Ralf Steeg erklärt, wie er die Spree zum Schwimmbad umwandeln möchte. Nora Al-Badri erläutert den Plan hinter ihrer Kopie der Nofretete. Heike Wiese bringt dem Publikum Kiezdeutsch bei. Und Jodellehrerin Doreen Kutzke wird natürlich Jodeln. Am meisten freut es die Autorinnen aber, dass viele der restlichen Buch-Berliner auch kommen wollen. Zwischen 30 und 50 hätten zugesagt, „wie ein Klassentreffen“, sagt Eidel. Und eine einmalige Chance für ein Autogramm auf jeder Seite. Ohne stundenlang an deren Lieblingsorten rumlungern zu müssen.

Buchvorstellung „111 Berliner, die man kennenlernen sollte“, am heutigen Donnerstag, 20.15 Uhr, Buchhandlung Moritzplatz im Aufbau Haus, Kreuzberg, Eintritt 3 Euro, ermäßigt 1 Euro. Um Reservierung wird gebeten unter info@buchhandlung-moritzplatz.de oder 030 61 67 52 70

Lucia Jay von Seldeneck, Verena Eidel: 111 Berliner, die man kennenlernen sollte. emons-Verlag, 240 Seiten, 16.95 Euro.

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