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Die drei Damen vom Bahnhof. Christiane Kundt (l.) hat das Buch mit Harald Hensel verfasst. Neben ihr Dagmar Giesen und Gaby Berulla, Aktive des Fördervereins im Bahnhofs-Treffpunkt.

© Thilo Rückeis

Buchtipp zum Osterfest: Lichterfelde, meine Liebe

Von Dampfloks, Küssen und US-Soldaten: Der alte West-Bahnhof war schon immer etwas Besonderes. Ein neues Buch erzählt seine Geschichten.

Die Lichterfelder nannten ihn den „Stöckelschuh-Bahnsteig“. Herzzerreißende Abschiedsszenen spielten sich am Bahnhof Lichterfelde-West ab. Eine letzte Umarmung. Ein letzter Kuss. Dann zogen die jungen Berlinerinnen ihre Stöckelschuhe aus, winkten ihrem Soldaten und rannten neben dem ausfahrenden Zug her, bis sie nicht mehr mithalten konnten: So riefen sich viele deutsch-amerikanischen Liebespaare in den 50er Jahren ein letztes „Good bye“ zu, wenn ein GI von West-Berlin zurück in die Heimat fuhr. Und so war es auch bei der heute über 70-jährigen Ingrid Maiboom und ihrem damaligen US-Freund David. „Ich stand wie erstarrt, weinend ging es heim. Meine erste große Liebe habe ich nie wiedergesehen“, erinnert sie sich im Buch „Lichterfelder Bahnhofsgeschichte(n)“.

Die kleinen Dramen gehörten einst zum Alltag am „Ami-Bahnhof“ Lichterfelde-West. Er war von 1947 bis 1994 die wichtigste US-Militärstation im Westteil der Stadt. Doch der bahnamtlich „Liw“ genannte Haltepunkt, 1872 im Stil einer toskanischen Belvedere-Villa gebaut, zählt auch zu den schönsten Berliner Bahnhofsgebäuden.

Die Geschichten reichen weit zurück bis zu den ersten Tagen der gründerzeitlichen Villenkolonien Lichterfelde-West und -Ost oder in die Zeit der geteilten Stadt – von Besuchen Theodor Fontanes mit der Dampfbahn bis zum S-Bahn-Boykott nach dem Mauerbau. Und an der Vergangenheit des Bahnhofs lässt sich gut ablesen, wie Industrieaufschwung und Berlins Wachstum im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Entwicklung der Eisenbahn vorantrieben.

Wehmütiger Abschied: Ingrid Maiboom und ihr US-GI David im Jahre 1955.
Wehmütiger Abschied: Ingrid Maiboom und ihr US-GI David im Jahre 1955.

© privat

Spannender Stoff also für den Geografen Harald Hensel (62) und Bibliothekarin Christiane Kundt (63). Beide sind in Lichterfelde aufgewachsen, Hensel ist Vorsitzender des Fördervereins Bürgertreffpunkt Bahnhof Lichterfelde-West. Ein Jahr lang haben sie recherchiert für ihr Buch in Stadt- und Landesarchiven, alten Zeitungsbänden, bei Eisenbahnhistorikern und Zeitzeugen befragt wie Ingrid Maiboom, die in ihren GI verliebt war. Oder Helga Mikhart. Sie zog 1941 als Vierjährige mit ihrer Familie in den Bahnhof ein. Damals wurde ihr Vater Dienststellenleiter. „Der Geruch der Dampfloks, das Rumpeln der Güterzüge“ begleiteten sie in den Schlaf.

Durch die Eingangshalle des Bahnhofs rennen an diesem Vormittag Schüler zur S-Bahnlinie S 1. Rechts der Bäcker, links ein Blumenladen, dessen Primeln nach Frühling duften. Direkt davor öffnet Christiane Kundt die Tür zum „Bürgertreffpunkt Bahnhof Lichterfelde-West“. Im früheren Warteraum und den Diensträumen im Parterre sowie in der einstigen Wohnung des Bahnhofsvorstehers im ersten Stock veranstalten der Bezirk Steglitz-Zehlendorf und der Förderverein seit etlichen Jahren Lesungen, Konzerte, Kurse. Ab Herbst soll ein Abendprogramm hinzukommen. „Dann haben wir hier einen Kulturbahnhof“, so Kundt.

Die erste elektrische Straßenbahn der Welt

Zum 140-jährigen Geburtstag der Station hat der Förderverein den Band herausgebracht. Christiane Kundt war anfangs kein „Pufferfreak“, aber dann hat sie das Eisenbahnthema „gepackt“, hat sie das Gebäude „mit neuen Augen gesehen“. Nun nimmt sie im Treff zünftig Platz: auf S-Bahnsitzen aus den 80ern. Rechts ein Hinweis: „Zur Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege wird dringen ersucht, nicht auf den Boden zu spucken!“ Ein Schild aus den Anfangstagen.

Alles begann in Lichterfelde-West 1865 durch die Initiative des Immobilienkaufmanns Johann Wilhelm Anton Carstenn. Er entwickelte dort die Villenkolonie und wollte sie rasch an die Wannseebahn anschließen. Dafür bezahlte er den Bahnhofsbau und gestaltete den Vorplatz als repräsentatives Entrée. Am 2. September 1883 überschattete den Glanz jedoch ein „entsetzenerregendes Unglück“, so das Teltower Kreisblatt. Eine Menschenmenge war über ein Fernbahngleis zum Lokalzug gestürmt. Ein Schnellzug raste in die Menge, 39 Menschen starben.

Ab 1890 hielt die Straßenbahn am Bahnhof, es war eine der ersten elektrischen der Welt. Auf der Wannseebahn wurde hingegen noch lange kräftig eingeheizt. Bis in die späten 50er Jahre waren hier Güterdampfloks unterwegs. 1947 wurde das „Rail Transportation Office“ (RTO) zur Station Lichterfelde-West verlegt. Von dort aus waren das US-Hauptquartier an der Clayallee und andere Armee-Standorte gut zu erreichen. Kamen GIs an, ertönte Militärmusik. Für Offiziere war ein stromlinienförmiger Dieselzug reserviert. Er hieß: der General. Und 1950 rückte ein Kran zu einer spektakulären Aktion an: Die „Freiheitsglocke“ kam auf ihrem Weg zum Rathaus Schöneberg mit dem Zug in Lichterfelde-West an. Sie wurde auf einen Laster umgeladen.

Was verbindet die Menschen mit einem Bahnhof? „Viele kleine, persönliche Erlebnisse und Souvenirs aus dem Alltag“, sagt Harald Hensel. Und lacht. „Wir sprechen hier ja nur noch von unserem Bahnhof.“

Harald Hensel, Christiane Kundt: Lichterfelder Bahnhofsgeschichte(n), 10 Euro, in Buchläden in Steglitz oder unter info@ lichterfelde-west.net zu bestellen. Mehr Informationen: www.lichterfelde-west.net.

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