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© David Heerde

Bundestagswahl: Wahlkampf in Pankow: Abstand halten

Szene-Kiez und Bürgerviertel, Neubaugebiet und dörfliche Vorstadt: Pankow vereint die Kontraste. Hier kämpft Wolfgang Thierse (SPD) gegen Stefan Liebich (Linke) – und gegen das Image des Grüßonkels.

Der Bart verwirrt sie. Der sei doch auf dem Wahlplakat rötlich. Und jetzt, wo sie, die Jungwählerin, dem SPD-Spitzenkandidaten und Vize-Bundestagspräsidenten bei einer Informationsveranstaltung in Prenzlauer Berg zum ersten Mal persönlich gegenübersitze, da wirke Wolfgang Thierses Bart eher grau. „Sind Ihre Aussagen vielleicht auch mehr rot gefärbt, als es der Realität entspricht?“, fragt die junge Frau keck. „Kann man Ihnen glauben?“ Da lacht Thierse, 65, auf. Ja, auch ihm gehe die Politik seiner Partei manchmal nicht weit genug, auch er wünsche sich mehr soziale Gerechtigkeit. „Ich habe viel Streit ausgefochten, auch in der eigenen Partei“, sagt er. „Aber alles verwirklichen, was man sich vorgenommen hat, kann man nur in einer Diktatur.“

So wirbt Thierse dieser Tage mal wieder nicht nur für sich und seine Partei, sondern auch für die Kunst des Kompromisses und sein Verständnis von Realpolitik. „Ich sehe meine Aufgabe darin, Politik zu erklären und zu vermitteln“, sagt er. „Glaubwürdigkeit“ sei sein wichtigstes Kapital. Zugespitzte Aussagen, persönliche Attacken oder Maximalforderungen sind dem rhetorisch versierten einstigen DDR-Bürgerrechtler zuwider. Wie auch die klassischen Podiumsdebatten, bei denen die Kandidaten vor Publikum „keifen und streiten“, wie er spöttelt. Thierse lehnt es weitgehend ab, an solchen aus seiner Sicht unergiebigen Veranstaltungen teilzunehmen. Er redet lieber direkt mit Wählern, an Straßenständen oder auf Einladung von Organisationen und Schulen.

Daran reiben sich seine Herausforderer, allen voran Stefan Liebich, 36, trotz seiner jungen Jahre schon altgedienter Linken-Politiker mit langer Parteiführungs- und Abgeordnetenhauserfahrung sowie als Sprecher des realpolitischen Reformer-Netzwerks „Forum demokratischer Sozialismus“ auch bundespolitisch profiliert. Das verschaffte dem Betriebswirt den noch chancenreichen Berliner Listenplatz vier. Liebich verspottet Thierse als „Schirmherr“, als „Grüßonkel“, der den Kontakt zum Bürger verloren habe.

Das ärgert Thierse, auch wenn diese Sticheleien ihn nicht aus seiner Vermittlerrolle fallen lassen. Eine „subtile Gemeinheit“ sei das, hält Thierse Liebich bei einer der seltenen direkten Begegnungen der beiden im Wahlkampf vor. Kämpferisch klingt anders. Die Zukunftswerkstatt Heinersdorf hatte die beiden und ihre Konkurrenten von CDU, FDP und Grünen vor kurzem ins nördliche Pankow – unweit der einst umstrittenen Moschee – zu einem Abend geladen, wie er Thierse gerade noch behagte: Jeder Kandidat wurde einzeln vorgestellt, danach konnten Bürger die Politiker individuell befragen, erst am Schluss gab es die Gruppendiskussion. Wenn Thierse bei Gelegenheiten wie diesen mit dem Vorwurf konfrontiert wird, er schwebe präsidial über den Dingen, dann kontert er mit dem Verweis auf einen Zeitungsartikel, in dem stand, er kenne in Pankow „jeden Garderobenhaken“. Er sei in Sprechstunden immer für die Bürger da und kenne deren Sorgen.

Und die kennen ihn. Wie die beiden Mädchen, die ihn bei seinem Wahlkampfeinsatz am S-Bahnhof Blankenburg vor einigen Tagen um ein Autogramm bitten. „Das ist das Pfund, mit dem ich wuchern muss“, sagt Thierse. Wo andere Kandidaten primär den Wahlkreis beackern und mit Menschen von dort zusammentreffen, streut Thierse neben lokalen Veranstaltungen immer mal Ereignisse von überregionaler Bedeutung ein, wie neulich ein Literatentreffen mit Günter Grass, der für Thierse las. Das zählt viel, gerade in diesen Zeiten, in denen viele Menschen mit Kritik an der von der SPD mitverantworteten Politik auf Thierse zukommen und ihn an sozialdemokratische Prinzipien erinnern. Da geht es um Afghanistan und Arbeitslosigkeit, um Mängel im Bildungssystem und die Anpassung der Ostrente ans Westniveau.

Die Themen, die die Menschen bewegen, unterliegen im von Zuzug geprägten Fusionsbezirk Pankow immer stärker einer Nord-Süd-Trennung, das hat auch Stefan Liebich beobachtet. Während die Wähler im Süden, vor allem in zunehmend wohlhabenden Vierteln wie rund um Kollwitz- oder Helmholtzplatz, „grüne Themen“ wie Ökologie und Atomausstieg oder familien- und bildungspolitische Fragen ansprechen, gehe es im Norden zwischen Platten-, Neubau- und dörflich geprägten Vierteln um Themen, die vor allem die Linke und abgemildertet die SPD sich auf die Fahnen geschrieben haben, von Hartz IV bis Mindestlohn und Rente. Vor vier Jahren kam Thierse im Wahlkreis auf 41,1, Liebich auf 24,3 Prozent. Ihre Parteien lagen mit 34,6 (SPD) und 24,4 Prozent (Linke) weniger weit auseinander. Die Grünen lagen mit 15,8 Prozent vor der CDU mit 14,4 Prozent.

Wer von den beiden am meisten von den Veränderungen im Wahlkreis profitiert? Wahrscheinlich keiner, vermutet der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann. Die Verjüngung der Wählerschaft, das steigende Bildungsniveau sowie der mit der Modernisierung einhergehende Austausch der Bevölkerung dürften am ehesten den Grünen neue Stimmen verschaffen. Deren Abstand zu Thierses Wahlergebnis dürfte jedoch groß bleiben. Auch Liebich geben Berechnungen wie die vom Wahlinformationsdienst election.de kaum Chancen, Thierse zu beerben.

Sicher ist das aber nicht, die Berührungsängste gegenüber der Linken sind hier gering. Da könnte die Begegnung mit den Kandidaten den Ausschlag geben. So wie neulich in Heinersdorf. Vor und nach den Kandidatengesprächen wurden die etwa 80 Zuschauer gefragt, wen sie wählen würden. Zu Beginn des Abends schnitt Thierse mit 45 Prozent doppelt so gut ab wie Liebich. Am Ende des Abends lag Thierse bei 33 Prozent, Liebich bei 30. Das ist natürlich nicht repräsentativ – der Wahlkreis aber auch nicht.

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