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Berlin: Cäcilia Agnes Höflich (Geb. 1913)

„Mit 15 hat sie sich bereits entschieden, / als Ordensfrau zu leben hienieden“

Das Zimmer ist winzig. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl passen hinein. Schwester Feodora sitzt an dem Tisch und schreibt: „Meine neunte Klasse, ich habe sie sehr bald lieb gewonnen.“ Sie steht auf, tritt ans Fenster und schaut hinaus auf den Hof der St. Marienschule. Es ist Abend, die Mädchen sind längst nach Hause gegangen. Aber am Tag stehen sie dort in der Pause, essen ihre Butterbrote und schwatzen. Sie sind keine Kinder mehr, denkt Schwester Feodora, setzt sich wieder an den Tisch und schreibt weiter: „Monika hatte nach den Ferien keine Zöpfe mehr. Sie bindet ihr Haar nun zu einem Knoten, um den sie ein buntes Band schlingt. Maria bürstet sich vor der Pause oder dem Heimweg rasch die Wimpern.“

Die Mädchen sind jetzt 14. Ein heikles Alter. Sie schwanken, spüren die Blicke der Jungen, wenn sie mit schwingenden Röcken an ihnen vorbeigehen. „Es ist ein Übergang von der Vorreifungszeit in die beginnende Frühreifungszeit.“ Schwester Feodora blättert in einem Buch über die Seele des Jungmädchens und notiert sich diesen Satz. Sie hat, neben Deutsch und Englisch, auch einige Semester Psychologie an der Freien Universität studiert.

Sie selbst schwankte nie. „Mit 15 hat sie sich bereits entschieden, / als Ordensfrau zu leben hienieden“, dichteten die Mitschwestern vom „Orden der Armen Schulschwestern“ zu ihrem 100. Geburtstag. Ihr Onkel, ein Priester, nahm sie häufig mit zu den Messen und Andachten, und sie wusste, dass es nur diesen einen Weg für sie geben würde. Ihre Eltern, fromme schlesische Bauern, hatten endlich, nach vier Mädchen, einen Sohn bekommen, der aber bald starb. Der Vater hoffte, „dass im nächsten Kind, / er den ersehnten Thronfolger find’t. / Doch ach, die Enttäuschung war riesengroß. / Es kam auf die Welt ein Mädelchen bloß.“ Cäcilia. „Nach ihr kam dann der ersehnte Sohn. / Er fiel als Soldat 1942 schon.“

Die Aufnahme in den Orden hieß auch: Bildung. Die „Armen Schulschwestern“ unterrichten seit dem 19. Jahrhundert und wenden sich dabei vor allem der Jugend, den Frauen und den Armen zu. Cäcilia machte ihr Abitur, begann, in Breslau zu studieren und gab sich einen neuen Namen: Feodora, eine Variante von Theodora, zusammengesetzt aus den Worten Gott und Geschenk.

Sich Gott schenken, ganz und gar, das wollte sie. Und Kindern die unermesslich weite Welt der Sprache zeigen.

Doch muss sie Acht geben. Zu rasch, zu heftig erröten die Wangen der Mädchen, gerade kürzlich, während sie über „Kabale und Liebe“, vom tödlichen Ende Ferdinands und Luises sprachen. Schwester Feodora schreibt in ihren Tätigkeitsbericht, den sie als Referendarin den Fachleitern der Schule aushändigen muss: „Die Schülerinnen zeigen sich lernfreudig. Doch die lebhafte Phantasie einiger erfordert öfter eine unauffällige straffe Führung. Deshalb muss ich einen gesunden Ausgleich zwischen ernsten und traurigen Stoffen und solchen von mehr gelockertem oder heiterem Gehalt finden.“ Heute klatschten sogar einige in die Hände, als sie ankündigte, den „Wilhelm Tell“ morgen mit verteilten Rollen zu lesen. Die Jungen der neunten Klasse reagieren neutraler. „Die Auswahl des Lesegutes für die Knaben schließt sich an jahres- und festzeitliche Begebenheiten an.“ Da errötet niemand. Auch die Konflikte zwischen den Jungen sind von einfacherer Natur und lassen sich unkompliziert lösen.

Schwester Feodora denkt an die Begebenheit mit Dörthe. Dörthe ist schon 18, „bereits reifer und verständiger als die anderen“. Während einer Pause ist eine andere Schülerin, „Bärbel, die gern im Mittelpunkt steht, wieder einmal recht übermütig. Sie zieht Maria, die ein Bein in die Luft hält, den Schuh ab, steigt auf das Fensterbrett und legt ihn auf die Gardinenstange. Es läutet zum Unterricht, der Schuh bleibt liegen. Ich lasse grundsätzlich einen harmlosen Scherz gelten, doch jetzt musste etwas geschehen.“ Schwester Feodora kann schlecht selbst auf den Sims klettern, mit ihrem langen schwarzen Kleid und dem Schleier, der ihre Stirn verhüllt. Auch später, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, auf dem beschlossen wurde, dass Ordensschwestern ihren Haaransatz zeigen dürfen, wird sie bei der alten Variante bleiben. „Nach einigen Minuten steht Dörthe auf und holt den Schuh. Was hätte ich getan, wenn sie nicht geholfen hätte?“

Sie weiß, dass das sorglose Auftreten der Mädchen über das sorgenvolle Leben zu Hause hinwegtäuscht. Viele haben keine Väter mehr, keine Brüder. Schon damals, 1937, nachdem sie ihr Studium in Breslau unterbrechen musste, „wegen Schwierigkeiten mit der Regierung“, betreute sie Waisen und später Flüchtlingskinder. „Es geht darum, die Gemütskräfte, aber auch die Denk- und Urteilsfähigkeit der Mädchen zu entwickeln“, schreibt sie und legt den Stift zur Seite.

Bis weit über ihren 70. Geburtstag hinaus gibt sie Schülern der St. Marienschule Nachhilfestunden. Sie wird für sechs Jahre zur Oberin gewählt. Sie hält engen Kontakt zu ihrer Familie. Sie bekommt zu jedem Fest Schokolade der Marke „Feodora“ geschenkt. Während der Andachten und Messen geht sie vor dem Altar, auch mit fast 100, in kerzengerader Haltung in die Knie. Sie trägt immer ein Englisch-Wörterbuch bei sich. Dieses Buch legen ihr ihre Mitschwestern in den Sarg. Wer weiß, ob sie nicht doch noch hin und wieder etwas darin nachschlagen muss.

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