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Canisius-Kolleg: Immer mehr Orden haben Aufklärungsbedarf

Canisius-Kolleg: Mit seinem Brief an die Missbrauchsopfer brach Pater Klaus Mertes ein Schweigekartell und löste eine Lawine aus, deren Ausmaß er nicht erwartet hat. Über seine Gefühle in dieser Zeit denkt der Kollegsrektor nachts nach.

Seit sieben Wochen kommen aus allen Winkeln der Republik neue Meldungen zu Fällen von Missbrauch und Misshandlung. Im Büro der Ordensanwältin Ursula Raue stapeln sich Ordner mit Fällen, die nicht nur den Jesuitenorden betreffen. Derzeit habe sie 160 Missbrauchsfälle im Jesuitenorden aufgelistet. „Bei den anderen Fällen habe ich aufgehört zu zählen.“

Seit einer Woche bekommt die Anwältin nun auch Anfragen anderer Orden, die ebenfalls Unterstützung durch einen unabhängigen Vermittler suchen. Auch die Deutsche Ordensobernkonferenz, die Vertretung aller römisch-katholischen Ordensgemeinschaften, habe sich an sie gewandt. „Es gibt 440 Orden. Wenn sie alle einen Vermittler wollten, braucht es viele fähige Personen, und die müssen gefunden werden. Die Aufklärung könnte sicher schneller gehen.“ Dem Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Stephan Ackermann, der die 27 Bistümer betreue, habe sie bereits bei seiner Ernennung geraten, unabhängige Vermittler einzustellen.

Bereits seit drei Jahren leitet Raue die Untersuchungen am Jesuitenkolleg, sie begann also lange bevor Rektor Klaus Mertes mit seinem Brief an die Öffentlichkeit ging und damit ein Schweigekartell brach. Das Ausmaß der Lawine, die er damit auslöste, hat er nicht erwartet. Über seine Gefühle in dieser Zeit denke er nachts nach. Tagsüber sei er notdürftig in den Schullalltag zurückgekehrt, weil er sich wieder mit seinen Pflichten als Rektor und Lehrer beschäftigen müsse. Dabei bleibe ihm nicht viel Zeit, sich Gedanken über die Reaktionen auf seine Person zu machen. Doch er weiß, dass jeder Satz von ihm einen doppelten Rückkopplungseffekt hat. „Ich bin Lehrer und katholischer Priester, und es betrifft meine Kirche. Ich stehe da mittendrin und hoffe, dass das, was jetzt passiert, befreiend wirkt.“

Mertes will seine Schule jetzt vorrangig vor Stigmatisierung schützen. „Der Schullalltag muss weitergehen, auch wenn die Aufdeckung der vergangenen Missbrauchsvorfälle am Kolleg zugleich einen gravierenden Einschnitt in die Schulgeschichte bedeutet.“ Es gebe nichts zu verheimlichen. Auch das Versagen der zuständigen Oberen sei öffentlich gemacht worden. Jetzt müsse noch genauer geklärt werden, ob es Mitbrüder gab, die Bescheid gewusst hätten; dabei müsse auch immer wieder entschieden werden, wem man glauben könne und wem nicht und was unter Einhaltung der Persönlichkeitsrechte offengelegt werden könne. Auch für ihn sei es wichtig, die Wahrheit zu kennen. „Das waren ja damals auch meine Oberen. Und selbstverständlich sehe ich mich in der Verantwortung den Missbrauchsopfern gegenüber. Forderungen werde ich im Gespräch mit den Missbrauchsopfern und mit meinem Gewissen ausmachen.“

Das Leben der Ordensanwältin hat sich in den letzten Wochen verändert. Sie wechselt zwischen der Position als Vermittlerin und Ermittlerin hin und her. Nächste Woche fährt die Anwältin wieder nach München, um in die Akten des Jesuitenordens zu schauen. Sie will verstehen, warum der Täterschutz eine gängige Praxis des Ordens gewesen sei und welches Ausmaß die Vertuschung und der Missbrauch habe. „Der Blick nach vorne macht nur Sinn, wenn man eine umfassende Analyse der Vergangenheit macht.“ Aussagen über den Stand ihrer Prüfung könne sie derzeit nicht machen.

Auch den Mandanten von Opferanwältin Manuela Groll ist an einer Aufklärung gelegen. Kritisiert wird jedoch die fehlende Transparenz. „Wir kommunizieren über Anwälte mit dem Orden, Zuständige von Kirchenseite antworten nicht auf persönliche Anfragen. Warum wird uns kein Blick in die Akten gewährt? Das Wissen der Betroffenen ist doch die beste Quelle für eine Aufklärung.“ Was fehle, sei die Bereitschaft für ein konfrontierendes Gespräch, auch mit den noch lebenden Zuständigen. Dazu ließ Jesuitenchef Stefan Dartmann verlauten, dass er mit Blick auf langfristige Pläne und Verantwortlichkeiten im Orden derzeit keine Stellung beziehen könne. „Das Verfahren sieht vor, dass ich die Untersuchungsergebnisse von Frau Raue abwarten muss, bevor ich mich äußern kann. Das Prinzip ist: Der Orden ermittelt nicht gegen sich selbst.“ Hadija Haruna

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