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Canisius-Kolleg: Ständig melden sich noch weitere Opfer

Am Canisius-Kolleg geht Aufklärungsarbeit weiter. Rektor Klaus Mertes kritisiert kirchliche Strukturen.

Die Erlebnisse während der Winterferien rücken diesmal wohl in den Hintergrund. Wenn die Schüler und die Lehrer des jesuitischen Canisius-Kollegs heute wieder zum Unterricht kommen, ist das Hauptthema, über das sie sich in den Pausen und manchen Fächern austauschen werden, klar: die sexuellen Missbrauchsfälle, die sich in den 70er und 80er Jahren an ihrem Gymnasium ereignet haben und kurz vor Ferienbeginn Ende Januar bekannt geworden sind. Seither melden sich ständig weitere Opfer bei der Missbrauchsbeauftragten des Ordens, Ursula Raue. Die Berliner Anwältin soll die Aufklärung der Fälle betreiben. Sie komme aber nur langsam voran, sagte sie am Sonntag, „weil ich immer wieder auf neue Betroffene eingehen muss.“ Ende Februar will sie ihren Bericht vorlegen.

Seit Ferienbeginn hielt Rektor und Pater Klaus Mertes im Kolleg die Stellung und leitete mit dem Jesuitenorden eine Untersuchung aller Übergriffe ein. Gestern erklärte er erneut, die Gerechtigkeit für die Opfer müsse Priorität haben. Das Zuhören sei ihnen bislang verweigert worden. Der Ruf von Kirche und Schule sei nun zweitrangig.

Zugleich waren die Missbrauchsfälle gestern Thema in katholischen Gottesdiensten des Erzbistums Berlin. Dom-Kapitular Ulrich Bonin verband dies in der St. Hedwigs-Kathedrale mit Kritik an einem Teil der Medien. Es müsse „Licht auf die Missbrauchsfälle“ fallen, es dürfe aber „kein künstliches Licht sein, kein Blitzlichtgewitter des Medien-Hypes, sondern ein Licht des Glaubens“. Dabei sei es besonders wichtig, auf diejenigen zuzugehen, „die Schaden genommen haben“.

Die Übergriffe am Kolleg durch zwei ehemalige Patres waren nicht durch die Presse, sondern durch eine Aktion des Rektors öffentlich geworden. Klaus Mertes hatte Anfang Januar einen Rundbrief an 500 einstige Canisius-Schüler der 70er- und 80er-Jahrgänge geschrieben, in dem er auf die Vorfälle einging und um Entschuldigung bat. Den Anstoß zu diesem Schreiben gab ihm ein „Schockerlebnis“: Fünf frühere Schüler, die heute über 40 Jahre alt sind, hatten sich Ende 2009 bei ihm gemeldet und als Opfer offenbart. Der Skandal machte nun Schlagzeilen, die Berliner Angelegenheit wurde zum bundesweiten Ereignis.

Rektor Mertes berief noch kurz vor Ferienbeginn eine Schulversammlung ein, wenig später reiste der oberste deutsche Jesuit, Pater Provinzial Stefan Dartmann, aus München an. Er versprach eine konsequente Aufklärung und lobte das offensive Vorgehen des Rektors, obwohl dieser im Zusammenhang mit den Übergriffen auch die Katholische Kirche hart kritisiert und ihr beispielsweise überholte Sexuallehren vorwirft.

Derart entschieden und offen wie im Canisius-Skandal waren die Katholiken noch selten um Aufklärung in den eigenen Reihen bemüht. So betonte Rektor Mertes gestern in einem Zeitungsinterview, dass ein Missbrauch immer zwei Aspekte habe. „Nämlich den Täter und die Institution, die nicht hinhört und Strukturen schafft, die so sind, dass Opfer erst gar nicht sprechen wollen.“

Durch die Hierarchie des Klerus und Ordens wurden offensichtlich Informationen über Missbrauch am Kolleg frühzeitig vertuscht. Zum einen hatten sich bereits in den 80er Jahren Schüler über „merkwürdige Praktiken“ der beschuldigten Canisius-Patres Peter R. und Wolfgang S. schriftlich beschwert. Die Briefe wurden nie beantwortet. Zum anderen hatte Wolfgang S. 1991 seine Taten der Ordensspitze gestanden. Dennoch waren beide auch später noch bis zur Pensionierung in der katholischen Jugendarbeit tätig.

Inzwischen fassen immer mehr Schüler katholischer Gymnasien Mut, sich als Opfer zu melden: 40 sind es bislang bundesweit, 30 davon am Canisius-Kolleg. Sexuelle Übergriffe werden in Internet-Foren beschrieben. Und Anfang Februar teilten die Jesuiten mit, dass ein dritter Pater in Berlin und an anderen deutschen Ordensschulen Schüler missbraucht haben soll.

Die Missbrauchsbeauftragte des Ordens, Ursula Raue, versucht nun in den Archiven der Jesuitenzentrale herauszufinden, wie die Ordensleitung einst mit den ersten Meldungen über die Täter umgegangen ist. Priorität haben aber bei ihr die Opfer. „Vorrangig muss ich mich erst einmal diesen Menschen widmen.“

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