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Canisius-Kolleg: Weit mehr Fälle von Missbrauch als angenommen

Die Zahl der Missbrauchsopfer am Canisius-Colleg ist offenbar weit höher, als bislang angenommen. Ursula Raue, die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens, geht von bundesweit um die einhundert Fällen aus.

Die Zahlen der sexuellen Missbrauchsopfer durch Jesuitenpatres liegen offenbar weit höher als erwartet. Die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens Ursula Raue hat am Montag erklärt, dass die Zahl der sexuellen Missbrauchsopfer, die sich bundesweit bei ihr oder anderen Anlaufstellen gemeldet haben, inzwischen um die 100 liegt. Nach den Vorfällen am Berliner Canisius-Kolleg wurden auch sexuelle Übergriffe an Jesuitenschulen in Hamburg, Bonn und im Schwarzwald bekannt. Einen umfassenden Bericht mit einer von ihr erhobenen Statistik will die Beauftragte in Kürze vorlegen. Canisius-Rektor Klaus Mertes hat inzwischen die Vermutung geäußert, dass bereits die Zahl der in Berlin betroffenen Schüler im dreistelligen Bereich liegt.

Die Opferberichte und die Täter-Systematik lassen entsprechende Schlüsse ziehen, sagte er am Montag. Von der Tagung der Deutschen Bischofskonferenz in der kommenden Woche erwarte er bei der Aufklärung der Fälle „Unterstützung und Ermutigung“. Der Rektor des katholischen Canisius-Kollegs hatte Anfang Januar Berichte über sexuelle Übergriffe zweier Patres aus den 70er und 80er Jahren am Canisius-Kolleg öffentlich gemacht. Inzwischen liegen Erkenntnisse über drei Täter an der Eliteschule vor, die Zahl der sich meldenden Opfer steigt fast täglich.

Die Berliner Anwältin Manuela Groll geht daher ebenfalls davon aus, dass allein die Zahl der in Berlin betroffenen Missbrauchsopfer über einhundert liegt. „Wir werden das nicht beweisen können, weil sich viele nie melden werden“, sagt Groll. Ihre Annahme basiere aber auf einer statistischen Hochrechnung der bekannten Fälle und einer entsprechenden Dunkelziffer. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sind die Missbrauchsfälle zwar strafrechtlich verjährt, dennoch haben sich inzwischen neun Opfer an Groll gewandt, um von ihr rechtlichen Beistand zu erhalten. „Meinen Mandanten geht es um die Aufklärung der Vorfälle, die bislang nur unzulänglich aufgedeckt wurden“, sagt die Anwältin. Und es gehe ihnen um eine Entschädigung – „in welcher Form auch immer“.

Die Berliner Jesuiten laden für den Abend des Aschermittwoch zum Gebet ein, „um vor Gott und der Öffentlichkeit unsere Scham und Trauer über die Schuld einzelner Jesuiten und die Katastrophe institutionellen Wegsehens auszudrücken“.

Ein anderer Missbrauchsfall in einer katholischen Gemeinde in Hohenschönhausen schafft unterdessen Verwirrung: Der Missbrauchsbeauftragte des Berliner Erzbistums hatte kurz nach Bekanntwerden der Vorfälle am Canisius-Kolleg auch einen Fall von sexuellem Missbrauch im Erzbischöflichen Ordinariat eingeräumt. Der Beschuldigte, Pfarrer W., ließ vergangene Woche in einer Gemeindesitzung eine Erklärung verlesen, in der er die Vorwürfe von sich weist und von einer „ungeheuren Peinlichkeit“ spricht, „im Zusammenhang mit den Vorgängen am Canisius-Kolleg öffentlich genannt zu werden“. Eine kirchlich beauftragte Kommissarin habe ihm versichert, dass die gegen ihn vorliegende Anzeige „im innerkirchlichen Raum“ bleibe. Inzwischen betrachte er die Schweigevereinbarung zwischen ihm und dem Erzbischöflichen Ordinariat als aufgehoben. Deshalb wolle er klarstellen, er sei nicht freiwillig gegangen, wie das Ordinariat erklärt hatte, sondern der Aufforderung der Diözese gefolgt, „sofort die Pfarrei, die Wohnung und die Stadt Berlin zu verlassen“. Und er habe zu keiner Zeit ein Eingeständnis abgegeben. Vielmehr frage er sich bis heute, „um was es hier geht“.

Das Ordinariat erklärte dagegen am Sonntag, Pfarrer W. habe höchstpersönlich „Verfehlungen eingestanden“ und ein entsprechendes Protokoll unterschrieben. „Die vorliegenden Vernehmungsprotokolle weisen aus, dass er nicht nur vorgeworfene Verfehlungen einräumt, sondern dem Bistum unbekannte Tatbestände und Namen benannte“, heißt es in der Erklärung. „In diesem Zusammenhang bat Pfarrer W. in der Vernehmung diejenigen, die es betrifft, um Entschuldigung.“

Ferda Ataman

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