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Vier für Kreuzberg. Die Politiker Turgut Altug (Grüne), Muharrem Aras (SPD), Figen Izgen (Linke) und Ertan Taskiran (CDU) traten zusammen bei einer Wahlveranstaltung des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg auf.

© dpa

Wahl-Endspurt: Chancengleichheit in Kreuzberg

Zum ersten Mal treten die vier großen Parteien in Kreuzberg mit türkischstämmigen Kandidaten an – von ihrer Herkunft wollen die aber am liebsten nichts hören.

Den Politstars von Kreuzberg ist der Medienrummel unangenehm. Sie machen mit, ist ja Wahlkampf, aber wohl fühlen sie sich nicht dabei. „Schade, dass man uns auf die Herkunft beschränkt“, sagt Ertan Taskiran, CDU-Kandidat für den Wahlkreis Kreuzberg-Nord, ein Fan von Helmut Kohl und Norbert Blüm. Sein Konkurrent von der SPD, Muharrem Aras, beteuert immer wieder, er sei nicht wegen seines Migrationshintergrundes aufgestellt worden. Turgut Altug von den Grünen verweist auf eine lange Tradition migrantisch-grüner Kandidaten im Wahlkreis. Und Figen Izgin von der Linkspartei erklärt, ihre Wähler würden sich im Gegensatz zur Presse nicht für ihre Herkunft interessieren.

Zum ersten Mal treten in einem Wahlkreis zur Abgeordnetenhauswahl alle vier großen Parteien mit einem türkischstämmigen Kandidaten an. Das macht Sinn im Kreuzberger Norden, wo nur rund 50 Prozent der Bewohner einen deutschen Pass haben und von diesen 50 Prozent etwa die Hälfte eingebürgert wurden, also ausländische Wurzeln haben. Obwohl es schon lange Sinn macht, sind zwei Parteien erst jetzt drauf gekommen: CDU und SPD traten 2006 noch mit deutschstämmigen Kandidaten an – und verloren den Wahlkreis an den türkischstämmigen Grünen Özcan Mutlu.

Den Ethnobonus haben diesmal vier Kandidaten – zumindest, was diesen Punkt angeht, herrscht zwischen ihnen Chancengleichheit. Die SPD lag 2006 bei den Zweitstimmen vor den Grünen, also braucht es diesmal nur ein besseres Zugpferd, um auch die Erststimmen einzufangen. Muharrem Aras ist ein Kandidat, der neben muslimischen auch christlich-teutonische SPD-Wähler ansprechen kann. Aras kam als Achtjähriger nach Deutschland und hat lange genug in Hamburg gelebt, um die Vokale schön zu dehnen und „anners“ zu sagen statt anders. Sein Türkisch ist über die Jahre etwas zähflüssig geworden, reicht nur noch für einen Wähler-Smalltalk am Kotti.

Aras, selbstständiger Rechtsanwalt, 39 Jahre jung, trägt Sakko und offenes Hemd – auch das passt seit Björn Engholm zur SPD. Er neigt zur ironischen Zuspitzung und kann über sich selber grinsen. Der SPD hält er vor allem das Bafög zugute. Ohne die staatliche Finanzhilfe hätte er nicht Jura studieren können. Sein Vater war Werftarbeiter. Aras Spezialthemen sind hohe Mieten und die A 100. Doch der Integrationsdebatte kann auch er sich nicht entziehen. Das kommunale Wahlrecht sollte nicht länger an den deutschen Pass gebunden sein, findet er.

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Christdemokrat Ertan Taskiran hat wie Aras das durchschnittliche Erscheinungsbild seiner Partei angenommen: Anzug, Krawatte, kurz gestutzte Halbglatze und wohlgenährte Statur. Er hat zwei Kinder, ist Vertriebsbeauftragter in einem Umweltunternehmen und begeisterter Deutschlandfan. Wenn seine Linken-Kollegin Izgin von Rassismus spricht, hält Taskiran das für eine unlautere Nestbeschmutzung. 1980 kam Taskiran als Zehnjähriger nach Kreuzberg. Dort erlebte er den 1. Mai 1987, die Barrikaden der Hausbesetzer und den brennenden Bollemarkt. Aus der Bild-Zeitung lernte Taskiran deutsche Spezialbegriffe wie „Chaoten“ und „Krawall“ und wie Politiker gegen die langhaarigen „Linksfaschisten“ vorzugehen gedachten. Das gefiel ihm. 1994 wurde er CDU-Mitglied und sorgt seitdem in seiner Partei für eine positivere Sicht auf die Einwanderungsgesellschaft.

Der grüne Turgut Altug gleicht eher den Parteiikonen aus der Gründungsphase. Langer buschiger Pferdeschwanz, Kuschelpulli, ein ruhiger Denkertyp, dem das plakative Wahlkampfgetöse oft die Stirn kräuselt. Turgut spricht fünf Sprachen, hat in Bolivien, Peru, Spanien, Italien und Norwegen gelebt, er sagt statt Multikulti lieber „Vielfalt der Lebensentwürfe“. Im vergangenen Jahr bekam er für sein „Türkisch-Deutsches Umweltzentrum“ die Integrationsmedaille der Bundesregierung. Altug engagierte sich schon in der Türkei politisch, wegen der Ungerechtigkeiten, denen Landarbeiter wie seine Eltern ausgesetzt waren. Nach dem Studium promovierte er in Deutschland und reiste mit einem Stipendium durch die Welt. Altug sagt, ein Teil seiner Seele fühle deutsch, aber diese Seele gehöre ihm allein, er möchte nicht gefragt werden, ob er Deutscher sei oder Türke.

Figen Izgin ist Migrantin und Frau, erfüllt also die Doppelquote, die unausgesprochen in vielen Parteien gilt. Izgin, eine zierliche Frau mit schwarzen Haaren, schweigt zur Frage, wie sie Kandidatin der Linken wurde. Interessanter findet sie die gläserne Decke, die Migranten daran hindere, in Führungspositionen aufzusteigen. Izgin kam als 14-Jährige nach Berlin, sprach nur wenig Deutsch und wurde zur Hauptschule geschickt. Nach dem Abschluss riet ihr jemand, bei Siemens anzurufen. Die hätten Arbeit für Leute aus der Türkei, und so war es auch. „Keiner hat gefragt: Warum machst du nicht eine Ausbildung?“ Auf die Idee kam sie erst, als nach der Wende in vielen Betrieben die Entlassungswellen rollten. Izgin wurde Erzieherin und begann, sich für türkische und bosnische Kinder einzusetzen.

Wenn deutsch-türkische Politikerinnen in Niedersachsen und Baden-Württemberg Ministerposten bekleiden, sei es höchste Zeit für einen migrantischen Senator, finden die vier Politstars aus Kreuzberg. Oder zumindest einen Bezirksbürgermeister. Der SPD-Kandidat für diesen Posten in Friedrichshain-Kreuzberg heißt übrigens Jan Stöß.

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