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Berlin: Christian Veit (Geb. 1935)

"Was, wenn wir erwischt werden?" - "Tja, nun."

Wer in den siebziger Jahren am Grips-Theater arbeitete, machte das nicht nur aus Lust am Spiel. Da war immer auch die Politik im Spiel. Das Kindertheater war Teil der Achtundsechzigerbewegung, Kinder sollten lernen, sich zu wehren, gegen schlagende Väter etwa oder brüllende Lehrer. Die Kinderladenkinder wuchsen mit den kapitalismuskritischen Grips-Liedern auf und sangen sie laut mit: „Meins oder deins – was für ’ne doofe Frage! Wir können doch auch teilen, dass jeder immer das bekommt, was er gerade braucht!“ Oder „Eines schönen Tages reißen wir die Zäune von den großen Gärten ein, lassen alle Kinder rein, das wird fein, das wird fein, das wird fein!“ Die Springer-Presse wetterte gegen „linksradikalen Agitprop für geistig wehrlose Kinder“. Die Berliner CDU-Fraktion wollte Schulklassen den Besuch des Theaters verbieten – und bescherte ihm damit die beste Werbung.

Als Christian 1973 von einem Freund gefragt wurde, ob er sich das Theater mal ansehen wolle, winkte er ab: „Lass mich damit in Ruhe. Kindertheater ist doch das Letzte!“ Dann hat er sich doch ein Stück angesehen – und ließ sich überreden mitzuspielen. 38 Jahre lang blieb er dabei.

Wäre es nach seinem Vater gegangen, dann wäre Christian Kunstbuchbinder geworden wie der Vater. Immerhin fünf Jahre lang ging der Sohn bei ihm in die Lehre. Mit dem Betrieb hatte es die Familie zu einigem Wohlstand gebracht. Sie lebten in Leipzig in einem schönen Haus mit großem Garten und Kindermädchen. Trotz des Krieges hatte Christian eine behütete Kindheit; selbst als sie aufs Land verschickt wurden, selbst als die Russen das Haus beschlagnahmten, machte er ein Abenteuer daraus: Dreimal stieg er in das Haus ein, um den Russen die beschlagnahmten Kaninchen zu entwenden. Ein anderes Mal stahl er Wein, um ihn gegen ein lahmendes Pferd zu tauschen.

Seine kleine Schwester nahm ihn zu ihrer Schauspielgruppe mit. So etwas wollte er auch tun! Und der Vater – der wenig Verständnis für die neue Leidenschaft des Sohnes hatte – vermittelte ihm einen Platz in der Leipziger Spielgemeinde, einer professionellen Theatergruppe der Kirche.

1959 zog Christian nach München, besuchte die Schauspielschule und wurde engagiert, erst in München, dann in Wien, Athen und in Berlin. Wenn er nicht spielte, malte er, baute Skulpturen und Bühnenbilder oder schrieb Gedichte. Er legte sich nicht fest, weder in der Kunst noch anderswo. Er improvisierte.

Mit der großen Tochter Anna steckte er im Urlaub am Strand oft den Kopf unters Badehandtuch, ihre „Erzähldecke“, um ihr dort ungestört seine ausgedachten Geschichten zu erzählen. Wenn der zehn Jahre jüngere Moritz von der Schule nach Hause kam, fand er hin und wieder eine Spur aus Papierschnitzeln, an deren Ende ein kleines Geschenk lag. Das Mittagessen präsentierte Christian zuweilen mit einer selbst gestalteten Speisekarte, die zwei Hauptgerichte enthielt, damit für jeden etwas dabei war. Hatten die Kinder zu viele Hausaufgaben auf, übernahm er sie.

Am Grips-Theater war er ein griechischer Gastarbeiter in „Ein Fest bei Papadakis“, er machte mit bei der „Linken Geschichte“, in der es um die Studentenbewegung ging, und bei „Alles Plastik“, das von Hausbesetzern handelte. In der dreistündigen Berlin-Revue „Linie 1“ war er der Obdachlose Schlucki vom Bahnhof Zoo, der Paranoide, der sich vor der CIA fürchtete, die Wilmersdorfer Witwe Martha, der Fremdenführer und noch ein paar mehr. Mehr als tausend Mal spielte er das Stück. Beim Schlussapplaus saß er oft schon in der U-Bahn, auf dem Weg zu seiner Frau Christiane und den Kindern. Es ging ihm ums Spiel, nicht um den Ruhm.

Mit „Linie 1“ ging das Grips auf Welttournee, aber schon in den Siebzigern reisten sie mit ihren Stücken durch Deutschland. Und waren immer knapp bei Kasse. Wenn sie in verlotterten Pensionen unterkamen, konnte die Laune der Truppe, die sich im „Intershop“ mit Bier und Metaxa eingedeckt hatte, schon mal kippen. Dann ersann Christian Ideen, wie sich das Elend beheben ließ. Sie schrieben Briefe an den kleinen Sohn von Volker Ludwig, dem Grips-Chef, die der Vater ihm vorlesen musste: „Lieber Nikolas, Volker wäre sehr traurig, wenn er wüsste, wie schlecht es uns geht!“

Ein anderes Mal gestalteten sie in der Nacht auf Zehenspitzen ein von Nonnen geführtes Wohnheim um – und bekamen Hausverbot. Überhaupt liebte Christian das Umgestalten. Wenn Kunst ihm nicht gefiel, lamentierte er nicht, sondern griff zum Stift und malte Antennen auf Häuser, damit die Menschen darin Fernsehen gucken konnten oder spendierte einem röhrenden Hirsch das fehlende Zeugungsorgan. So bekam Christian den Beinamen „der Vollender“. Und wenn jemand fragte: „Was, wenn wir erwischt werden?“, dann sagte er: „Tja, nun.“

Am Abend nach der tausendfünfhundertsten Vorstellung der „Linie 1“, ging es ihm schlecht. Er hatte schon länger Probleme mit dem Herzen, und jetzt ging alles ziemlich schnell. Aus seiner Trauerfeier machten die Theaterkollegen ein lautes, trauriges Fest. Candida Splett

Candida Splett

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