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Berlin: Christian Zertz (Geb. 1951)

Er war immer der Erste, der sich aufs Eis wagte.

Blau ist seine Lieblingsfarbe. Blaue Schmetterlinge malt er auf die Wände des Pavillons am Groß-Glienicker See. Sein letztes Projekt. Von der kleinen Veranda geht der Blick auf den See. Zwei eingeklappte Sonnenschirme, dazwischen ein einsamer grüner Stapelstuhl. Ein schwarzer Porsche fährt durchs Dorf und drosselt die Geschwindigkeit. In Groß-Glienicke scheint die Welt in Ordnung. Enten quaken selbstbewusst auf dem Wasser, ein riesiger Schwan überquert den kleinen Strand. Auf dem Spielplatz üben zwei Mädchen an der Reckstange, sie zählen ihre Schwünge.

Als die Beamten kommen, weiß seine Frau sofort Bescheid. Eine Gewissheit wie ein Stich. Ein Seelsorger kümmert sich um die Familie. Der Sohn zieht sich auf sein Zimmer zurück. „Fersaute Weihnachten“ schreibt er auf einen Zettel und hängt ihn an die Tür. Die Tochter malt ihren Vater: ein fröhlicher Engel mit Schmetterlingsflügeln.

Ein Foto zeigt Christian Zertz als Knaben zusammen mit seiner kleinen Schwester. Sie stehen am Strand von Steinhude und blicken übers Wasser. Fürsorglich hält er ihre Hand. Groß-Glienicke erinnert ihn an den Ort seiner Kindheit. Im Sommer kitzelten sandige Wege die nackten Füße. Dort war er glücklich, berauscht von Abenteuern und einer unerschöpflichen Spielzeugkiste. Egal, wohin es den Erwachsenen verschlägt, in seinem Herzen lebt das Kind vom Steinhuder Meer fort. Als seine Mutter stirbt, ist er knapp dreißig. Den Vater verlässt der Lebenswille. Auch das hinterlässt Spuren in ihm.

Schon während des Betriebwirtschaftsstudiums in Berlin sprudeln die Ideen. Christian Zertz baut das Café Einstein mit auf, er trifft auf die Filmproduzentin Regina Ziegler und ihren Mann, den Regisseur Wolf Gremm. Er wird Filmgeschäftsführer und übernimmt die Herstellungsleitung von „Querelle“, Fassbinders letztem Film. Sympathien fliegen ihm zu, er ist blitzgescheit, hellwach. Er produziert Serien, entwickelt Drehbücher und will doch nur dieses Kind sein, das er war, das er ist, das die turbulente Mitte seines Lebens bildet, ständig bedroht von einer bürokratischen und viel zu vernünftigen Welt drumherum.

Er war immer der Erste, der sich aufs Eis wagte und herüberschlitterte zur Insel Wilhelmstein. Nun tritt er eine Ideen-Welle nach der nächsten los. Nichts kann ihn aufhalten, kein Beinbruch, kein Gedanke an die Zukunft. Auch die schwarzen Dämonen nicht, die manchmal auftauchen. Er schlägt sie in die Flucht. Wenn ihm etwas zu viel wird, geht er in den Garten und raucht einen Joint. Er kostet den Augenblick aus, verwandelt Luft in Liebe und Liebe in Rausch. Mit der Ordnung hat er es nicht so. Die alte Laube im Garten streicht er bunt an, eine Villa Kunterbunt für die Kinder. Hat Pippi Langstrumpf je aufgeräumt?

Eine Kurzgeschichte fasziniert ihn, er würde sie gerne verfilmen: „The Curious Case of Benjamin Buttons“ von Scott Fitzgerald. Sie handelt von einem Mann, der als Greis geboren wird und im Laufe des Lebens immer jünger wird.

An einem seiner letzten Geburtstage tanzt er mit Bündeln brennender Wunderkerzen in den Händen durch den Garten. Die Kinder jubeln, die Erwachsenen schmunzeln. Geld ist für ihn bedrucktes Papier. Hat er genug davon, ist es auch schon ausgegeben, dann muss neues her. Jahrzehntelang geht das gut, doch wie früh muss man an später denken?

Die Geschichte überholt Christian Zertz, es sind andere, die den Buttons-Film machen. Als der Film in Deutschland in die Kinos kommt, hat eine dunkle Wolke Christian verschluckt. Der Winter ist ein dreckiger Regensack, schwarz, nass und schwer. Der Körper ermüdet vom langen Spiel, das Kind erschöpft und desillusioniert.

Auf dem Bild hebt der Schmetterlingsengel die Flügel, als wolle er winken. Unbekümmert lächelt er aus dem Bild. Auf dem Tisch neben ihm stehen ein Glas Rotwein und eine Blume. Die Blume erinnert an den sprühenden Zauberstab einer Fee. Neben dem Schmetterlingsengel steht ein großer Geldkoffer. Eine lose Banknote gleitet durch die Luft. Stephan Reisner

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