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Feiern, als gäbe es kein Morgen. Teilnehmer des CSD in Berlin.

© picture alliance / dpa

Christopher Street Day in Berlin: Dabei sein ist nicht alles

Hunderttausende feiern am Sonnabend in Berlin den Christopher Street Day. Steven M. Brown ist schwul und will trotzdem beim CSD nicht mittanzen. Hier erklärt er, warum. Eine Polemik.

Ich bin ein Northwoods Gay, ein Schwuler aus den Wäldern des Nordens. Männer wie ich wohnen in kleinen Orten im Norden Amerikas oder Europas, nahe der Natur. Wir angeln gern, jagen vielleicht mal, haben Freunde aus allen möglichen Bereichen des Lebens, wir engagieren uns im Stadtrat – und einige von uns waren schon einmal verheiratet und haben Kinder.

Ein Northwoods Gay definiert sich nicht zuerst über seine Sexualität. Weil sie nicht den größten Teil seines Lebens ausmacht. Wir sind Millionen, trotzdem haben wir keine eigene Subkultur innerhalb der schwulen Community. Wir sind nicht so leicht erkennbar wie Leather Bears, kräftige Männer, deren Fetisch Leder ist, oder Party Twinks, Jungs, die in schrillen Klamotten jedes Wochenende ausgehen. Aber wir existieren.

Dieser Kultur fühle ich mich zugehörig. Was auch bedeutet: Ich habe noch nie einen Christopher Street Day, oder wie es auf Englisch heißt: eine Pride-Parade, besucht. Hat mich nie interessiert. Ich verstehe, dass es für einige Männer identitätsstiftend ist, in einer großen Masse zu sein, die ist wie sie. Ich habe mich dagegen entschieden, eine Parade als Norm zu betrachten, der ich mich unterordnen soll.

Ich hasse Paraden, Schwulenumzüge, patriotische Aufmärsche, egal. Wenn ich an eine Pride-Parade denke, habe ich homogene Bilder im Kopf. Ich sehe die Zentren von Großstädten wie London, San Francisco oder Berlin, Straßen voller brustfreier Männer verschiedener Altersgruppen, vornehmlich muskulös, die sich zu Dance-Musik bewegen. Mir ist bewusst, dass dies ein oberflächliches Bild ist, ich kann kein dezidierteres geben. Mit Sicherheit weiß ich nur, was so eine Parade nicht ist: eine Veranstaltung, auf der sich Männer treffen, Kaffee trinken und philosophische Ideen austauschen.

So etwas ist mir wichtig. Als ich vor 15 Jahren am College in Detroit Kunst studiert habe, hatte ich zwei Jobs, die mich finanziell über Wasser hielten: Ich arbeitete 50 Stunden pro Woche im Atelier an meinen Skulpturen, und ich hatte Freunde, mit denen ich über Kunst diskutierte. Der Kunst gehört mein Herz. Um sie herum organisiere ich mein Leben, ich arbeite heute in einem kleinen Kunstverein im Bundesstaat Michigan, schreibe nebenher und gehe kaum aus.

Es gibt Menschen, die ihr Leben nach großen Partys ausrichten, zu den Circuit-Partys überall auf der Welt fahren, nach Miami, Barcelona, New York, oder jedes Jahr eine schwule Kreuzfahrt machen. Das ist nicht meine Welt.

Obwohl ich es versucht habe. Vor ein paar Jahren ging ich im Castro aus, dem Schwulenviertel von San Francisco. Ich hatte eine tolle Nacht, am Ende war ich völlig betrunken, ein schwuler Arbeitskollege und eine Frau, die er kannte, wir tanzten bis in den Morgengrauen, aber es forderte meinen Intellekt nicht heraus. Es langweilte mich.

Dasselbe passierte mir in Berlin. Ich habe bis 2012 sechs Jahre in Weimar gelebt, in dieser Zeit war ich bestimmt mehr als 50 Wochen in Berlin, sie haben mich der schwulen Kultur kein Stück nähergebracht. Ich habe im Berghain getanzt, bin jeden Tag über alle möglichen Schwulen gestolpert, wenn ich aus der Haustür trat, aber ich wurde einfach nicht warm mit der Community. Ich stellte mir die Frage: Wohin führt uns diese Unterhaltung, die wir gerade führen? Die Antwort war immer dieselbe.

Sex auf dem Minigolfplatz

Feiern, als gäbe es kein Morgen. Teilnehmer des CSD in Berlin.
Feiern, als gäbe es kein Morgen. Teilnehmer des CSD in Berlin.

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Als ich das Angebot bekam, für einen Verleger auf eine schwule Kreuzfahrt zu gehen und darüber zu schreiben, war ich trotzdem aufgeregt. Es war eine Herausforderung für mich als Autor. Natürlich können Sie behaupten, so eine Kreuzfahrt sei wie eine Pride-Parade, die sieben Tage dauert. Aber sie ist noch mehr: eine exklusive Form des Reisens und dünn verschleierter Sextourismus.

Ich finde es traurig, wenn eine Gruppe von Menschen dafür bezahlt, eine andere Gruppe auszuschließen. Die Abgrenzung auf so einer Schiffsreise funktioniert über Geld. An Bord haben wir nur die vermögende Mittelschicht, die sich damit das Recht erkauft, dass sie niemand schräg anguckt, dass sie sein kann, wie sie will – und nur ihresgleichen um sie herum sehen muss.

Im Moment wohne ich in Frankfort, mein Bezirk landet jedes Jahr als der ärmste im Bundesstaat Michigan ganz unten auf der Liste, 16 000 Menschen leben auf einer riesigen Fläche, die größte Stadt hat gerade mal 1200 Einwohner. Doch wenn ich auf eine Gemeindeveranstaltung gehe, sehe ich unterschiedlichere Menschen als auf einer Kreuzfahrt mit 3000 Männern: junge Familien mit Kindern, Großeltern mit ihren Enkeln, Teenager. Keine Sorge, ich bin nicht the only gay in the village. Ein Geschäftsmann in der Stadt ist homosexuell, er ist inzwischen ein guter Freund geworden, er lebt offen schwul seit seinem 15. Lebensjahr und ist als Stadtrat eine Person des öffentlichen Lebens.

Natürlich habe ich interessante Entdeckungen auf dem Schiff gemacht. Das Schwanzdeck zum Beispiel. Das ist der Minigolfplatz auf dem obersten Deck, wo nachts Männer nach einem Sexualpartner suchen. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich dem Schwanzdeck einen Besuch in tiefster Nacht abgestattet, ich wäre offen für eine mögliche Begegnung gewesen. Da ich mich jedoch in einer langjährigen monogamen Beziehung befinde, war mein Interesse gering.

In meiner Jugend habe ich sexuelle Erfahrungen an ähnlichen Orten gesammelt – allerdings waren sie nicht so geschützt wie auf einem riesigen Schiff im Pazifik, auf dem jeder weiß, dass der andere schwul ist. Ich bin auf die Toiletten von Kaufhäusern und Raststätten gegangen, um andere Männer zu treffen. Das klingt erst mal traurig, hat für mich aber nach wie vor etwas Romantisches: Einen Fremden zu treffen, an einem unbeobachteten Ort, der 24 Stunden für alle offen steht, dieses Szenario gefällt mir. Es gab keine Website, die mir erklärte, was ich tun sollte, keine Karte, auf der die Treffpunkte eingezeichnet waren, alles lief über Mundpropaganda oder zufällige Entdeckungen.

Wenn ich nachts auf eine Raststätte fuhr, musste ich aufpassen. Ich wusste nie, wer diese Männer waren. Es gab eine ganze Reihe von Entscheidungen, die getroffen, Verhandlungen, die geführt werden mussten, und alles ohne Worte. Es war ein Tanz der Vermutung. Kam ein fremder Mann auf die Toilette, wusste ich schließlich nicht sofort, ob er hetero- oder homosexuell war. Ich hätte ihn beleidigen, und er mich allein in solch einer Umgebung leicht verletzen können. Allerdings waren die meisten Heteros, die ich versehentlich anmachte, verwirrt, angeekelt und beschämt. Sie liefen sofort weg, als sie merkten, was ich suchte.

So eine Situation ist gar nicht so viel anders als die eines Teenagers, der zum ersten Mal in eine Schwulenbar geht. Alles ist rätselhaft, exotisch, er kann die Zeichen noch nicht deuten. Er befindet sich im Dschungel der Sexualität – den ich auf einer schwulen Kreuzfahrt oder einer Pride-Parade als genormt und gezähmt empfinde. Beides sind organisierte Vergnügungen.

Die nachmittäglichen T-Dance-Partys auf dem Schiff waren nicht nur Tanzveranstaltungen, sie waren organisierte Kuppelei. Da gab es Männer, die genau wussten, welche Art von Fetisch sie mochten, welchen Typ Mann sie suchten und wie sie an Sex mit ihm kamen. Völlig uninteressant.

Faszinierender fand ich Menschen, die gebrochen wirkten, die nach etwas suchten, von dem sie nicht genau wussten, was es war. Mein Kabinenmitbewohner Stan war so jemand. Er war Flugbegleiter, etwas älter und ganz bestimmt nicht unerfahren. Das war immerhin seine 13. Kreuzfahrt mit einem schwulen Reiseveranstalter. Stan war selbstsicher, trotzdem hing die Aura des Suchenden über ihm. Alle seine Aktivitäten hatten etwas Oberflächliches: Er reiste im Job ständig umher, lernte Menschen für kurze Zeit kennen, wohnte in Hotels und hatte noch nicht den einen gefunden. Sein Vater lebte in Polen, Stan hatte ein zerrüttetes Verhältnis zu ihm.

Stan war ein netter Kerl, doch ständig verschwand er, um mit anderen Männern Sex zu haben. Er kam kaum in unsere Kabine zurück. Stan war völlig in der schwulen Kultur aufgegangen und fühlte zur selben Zeit eine permanente Unvollkommenheit. Er suchte nach der vollkommenen sexuellen Befriedigung – und die gibt es nicht. Ihm haftete etwas Verzweifeltes an, weil er so etwas Vergängliches festhalten wollte.

Er wird nie aufhören, danach zu suchen. Und ich glaube, das ist ein wiederkehrendes Muster für viele Schwule, die auf solche Großveranstaltungen gehen. Im Sommer fährt ein sichtbarer Teil von ihnen von einem Pride zum nächsten, nach Amsterdam, London und Berlin, auf der Suche nach dem besseren Sex in der nächsten Stadt. Mal ehrlich, wenn Sie fünf Wochenenden hintereinander auf solche Paraden fahren, geht es da noch um die Veranstaltung an sich? Da gehe ich doch lieber angeln.

Protokolliert von Ulf Lippitz; Von Steven M. Brown ist soeben das Reportagebuch "Glänze, Gespenst!" im Verlag Haffmans & Tolkemitt erschienen (340 Seiten, 19,95 Euro)

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