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Chronik: Berliner Jahresrückblick 2009

Ekelliste, S-Bahn-Chaos, Sarrazinaden, Rockerkrieg, Laufstege am Flugfeld, ein Fest der Freiheit und ein Nobelpreis. 2009 war für Berlin alles drin.

Es folgt ein Brevier des großen Berlintheaters 2009. Akteure sind: eine frostanfällige S-Bahn, ein tatverdächtiges eineiiges Zwillingspaar, ein wortgewaltiger Finanzsenator, eine „Ekelliste“, eine Frau aus Finnland, die „Einraumkneipe“, der Stasi-Polizist Karl-Heinz Kurras u. v. a. m.

JANUAR

Die Kälte ist diesmal so schlimm, dass die S-Bahn kapituliert. Im Eiskeller wird am 6. Januar mit minus 20,2 Grad die niedrigste Temperatur seit 2000 gemessen. Am 16. Januar wird der Intensivtäter Dennis J. in Neukölln beerdigt. Der 26-Jährige war am Silvesterabend von einem Polizisten in Schönfließ bei Berlin erschossen worden. Freunde und Verwandte erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Spektakulärer Einbruch im KaDeWe: Unbekannte dringen über ein Fenster in das Nobelkaufhaus ein und stehlen Schmuck und Uhren im Millionenwert. Die Polizei ermittelt schnell zwei Tatverdächtige, ein eineiiges Zwillingspaar, doch die DNA-Spur kann keinem der Brüder eindeutig zugeordnet werden. Die Brüder werden aus der U-Haft entlassen und geben zu Protokoll: „Wir danken dem deutschen Rechtsstaat.“

FEBRUAR

Der wegen Kindesmissbrauchs angeklagte ostdeutsche Liedermacher Kurt Demmler nimmt sich am 3. Februar im Untersuchungsgefängnis Moabit das Leben. Am 17. Februar wird bekannt, dass Finanzsenator Thilo Sarrazin zur Bundesbank wechselt. Er war sieben Jahre lang Berlins meistgefürchteter Zahlendompteur. Sein Nachfolger wird ab 1. Mai der frühere Bremer Finanzsenator Ulrich Nußbaum. Oscar-Gewinner Jochen Alexander Freydank wird am 24. Februar auf dem Flughafen Tegel wie ein Held empfangen. Er erhielt die Trophäe für den überwiegend in Berlin gedrehten Kurzfilm „Spielzeugland“.

MÄRZ

Pankow stellt Imbisse und Restaurants an den Internet-Pranger: In einem bundesweit einmaligen Projekt wird eine „Ekelliste“ der Lebensmittelaufsicht veröffentlicht. Nach einem Monat wird die Suchgrabung nach einer Türsteherleiche im brandenburgischen Schildow beendet. Jetzt klafft ein fünf Meter tiefes Loch im Garten eines Hausbesitzers. Der Türsteher war vor zwölf Jahren in Berlin ermordet worden. Eine psychisch kranke Frau aus Finnland hält sich seit Monaten völlig allein in Berlin auf und lebt zeitweise in den Hallen des Flughafens Tegel. Erst am 31. Juli kehrt sie nach Finnland zurück.

APRIL

Beinahe-Katastrophe in Berlin-Karow: Am 16. April fährt ein Regionalexpress auf einen Güterzug mit Flüssiggas auf. 24 Menschen werden verletzt, zwölf müssen im Krankenhaus behandelt werden. Ursache soll eine falsch gestellte Weiche gewesen sein. Pro Reli? Contra Ethik? Am 26. April scheitert der Volksentscheid zur Aufwertung des freiwilligen Religionsunterrichts in Berlin. Damit besuchen Berliner Schüler auch künftig den obligatorischen Ethikunterricht. Der Religionsunterricht bleibt freiwilliges Zusatzfach. Das Denkmal zur Deutschen Einheit am Schlossplatz ist nicht zu meistern. Am 28. April wird der Wettbewerb ergebnislos abgebrochen. Keiner der 20 Vorschläge konnte die Jury überzeugen. Die Raucher erobern verlorenes Terrain zurück. In Berliner Einraumkneipen darf wieder Blaudunst wabern. So beschließt es das Abgeordnetenhaus.

MAI

Der 1. Mai wird mal wieder seinem schlechten Ruf gerecht. Es kommt in Kreuzberg zu schweren Krawallen. 440 Polizisten werden verletzt und 44 Haftbefehle gegen vermeintliche Randalierer erlassen. Innensenator Ehrhart Körting spricht von einem Rückschlag. Zwei Schüler sollen einen Brandsatz geworfen haben. Ihnen wird versuchter Mord vorgeworfen. Erst im Dezember werden sie aus der Untersuchungshaft entlassen. Rot-rote Regierungskrise: Canan Bayram verlässt die SPD, Carl Wechselberg kehrt der Linken den Rücken, er verzichtet aber auf einen Fraktionsaustritt und rettet so die knappe rot-rote Mehrheit. Im Kampf gegen die Brandanschläge auf Luxusautos verbucht die Polizei einen seltenen Erfolg: Sie nimmt eine junge Frau fest, die in der Nähe eines Feuers bemerkt worden war. Gegen die 21-Jährige wird Haftbefehl erlassen. Im Herbst wird sie vom Gericht mangels Beweisen freigesprochen. Geschichte wird gemacht – und nachher umgeschrieben. Der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der den Studenten Benno Ohnesorg 1967 erschossen hatte, war Stasi-Spitzel und Mitglied der SED. Das geht aus Akten der Birthler-Behörde hervor. Im November wird Kurras, 81, wegen illegalen Waffenbesitzes zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

JUNI

Ein Großaufgebot der Polizei verhindert am 20. Juni die Besetzung des Flughafens Tempelhof durch linksalternative Demonstranten. Bald darauf beginnen legale Führungen – zu Fuß, per Rad oder im Bus. Am 29. Juni beginnt das große S-Bahn-Chaos. Das Eisenbahnbundesamt beordert zahlreiche Züge in die Werkstatt. Es kommt zu massiven Einschränkungen. Hintergrund ist ein Unfall in Berlin-Kaulsdorf. Dort war am 1. Mai ein S-Bahnzug nach einem Radscheibenbruch entgleist. Die S-Bahn hatte sich daraufhin zu Kontrollen verpflichtet, diese Kontrollen aber bewusst verschlampt.

JULI

Auf dem Flughafen Tempelhof fliegen jetzt die Röcke. Die Modemesse Bread and Butter ist zurück in Berlin und füllt die Hangars mit Stoffen, Schönheiten und sehnsüchtigen Blicken. Bei der S-Bahn rollen jetzt die Köpfe. Alle vier Geschäftsführer müssen wegen des andauernden Desasters ihren Hut nehmen. Im Prozess um ein Tequila-Wetttrinken, bei dem 2007 ein 16-jähriger Gymnasiast zu Tode kam, wird der Wirt zu drei Jahren und fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte die Verantwortung für den Tod übernommen und zugegeben, statt Tequila Wasser getrunken zu haben. Knut bleibt ein Berliner. Der Zoo einigt sich mit dem Tierpark Neumünster, der Knuts Vater Lars eigentlich nur verliehen hatte, auf eine Ablösesumme von 430 000 Euro. Rechte Gewalt: Vier Neonazis schlagen am 12. Juli einen Studenten auf der Frankfurter Allee bewusstlos. Durch einen sogenannten Bordsteinkick erleidet der Mann Prellungen und Hirnblutungen. Gegen die vier mutmaßlichen Täter im Alter von 20 bis 26 Jahre wird Haftbefehl erlassen.

AUGUST

Das Dach eines Kirchengebäudes der Rumänisch-Orthodoxen Gemeinde in Berlin-Westend bricht am 4. August zusammen und begräbt zwei Menschen unter sich, darunter den Pfarrer. Beide Opfer werden getötet. Glimpflich geht ein anderes Unglück aus: Auf dem Deutsch-AmerikanischenVolksfest bleibt das Fahrgerät „Stargate“ plötzlich stehen – 14 Menschen bangen kopfüber hängend um ihr Leben. Erst nach 45 Minuten können sie aus dem Karussell gerettet werden. Rockerkrieg in Hohenschönhausen: Ein 33- Jähriger wird auf offener Straße erschossen. Er war früher Mitglied der Hells Angels und soll sich den verfeindeten Bandidos angeschlossen haben. 32 Jahre nach dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird die frühere RAF-Terroristin Verena Becker in Berlin-Zehlendorf festgenommen. Sie ist dringend verdächtig, an dem Anschlag auf Buback im April 1977 beteiligt gewesen zu sein.

SEPTEMBER

Der Bau des Stadtschlosses gerät in die Mühlen der Bürokratie. Der Vertrag mit dem italienischen Architekten Franco Stella ist ungültig, hat die Vergabekammer des Bundeskartellamtes entschieden. Das Oberlandesgericht Düsseldorf sieht das anders. Am 2. Dezember gibt es grünes Licht für den Bau nach Stellas Plänen. Der frühere Berliner Bau- und Finanzsenator Klaus Riebschläger, 69, kommt am 23. September beim Absturz eines Kleinflugzeugs im brandenburgischen Schönhagen ums Leben. Ein Drogenexperiment gerät außer Kontrolle: Bei einer Therapiesitzung in Berlin-Hermsdorf werden zwei Männer getötet. Der Arzt und Psychotherapeut hatte ihnen bewusstseinserweiternde Mittel verabreicht.

OKTOBER

Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin lässt nicht ab von Berlin. In einem Interview erklärt er, große Teile der türkisch- und arabischstämmigen Bevölkerung seien „weder integrationswillig noch integrationsfähig“. Ein Sturm der Entrüstung fegt über das Land. Sarrazins neuer Arbeitgeber, die Bundesbank, beschneidet seine Kompetenzen. Zum Tag der Wiedervereinigung kommen „Die Riesen“ nach Berlin: Rund eine Million Menschen begleiten die bis zu 15 Meter hohen Marionetten auf ihrem Weg durch die Stadt. Der Nobelpreis für Literatur wirbelt die Wahl-Berlinerin Herta Müller aus ihrem ruhigen Leben in einem Friedenauer Altbau hinaus auf die globale Bühne. Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet das Neue Museum auf der Museumsinsel. Jetzt ist Nofretete zusammen mit den anderen Schätzen der Ägyptischen Sammlung eingezogen.

NOVEMBER

Die Schweinegrippe fordert in Berlin ein erstes Todesopfer. Der 40-Jährige war mit einer Lungenerkrankung ins Urban-Krankenhaus gebracht worden. Die Nachfrage nach dem Impfstoff steigt rapide an. Am 9. November feiert Berlin das „Fest der Freiheit“ am Brandenburger Tor. Höhepunkt ist der Fall einer symbolischen Mauer aus rund 1000 großen Dominosteinen. Herbe Niederlage für den rot-roten Senat: Die SPD-Staatssekretärin Hella Dunger-Löper fällt bei der Wahl zur neuen Präsidentin des Landesrechnungshofes durch. Der Präsident der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen, wird neuer Präsident der Universität Hamburg. Über die umstrittene Verlängerung der Stadtautobahn A 100 ist ein offener Machtkampf ausgebrochen. Die Regierungsfraktionen SPD und Linke sperren das Geld für die weitere Planung der Trasse nach Treptow.

DEZEMBER

Das Bundesverfassungsgericht heiligt die Sonntagsruhe. Vier verkaufsoffene Adventssonntage seien mindestens zwei zu viel, sagen die Karlsruher Richter und erklären das großzügige Berliner Ladenöffnungsgesetz für teilweise verfassungswidrig. Der Senat muss es nun nachbessern, das Adventsshopping bleibt in diesem Jahr aber noch unberührt. Vermutlich Linksextremisten verüben am 4. Dezember einen Brandanschlag auf die Außenstelle des Bundeskriminalamtes in Treptow. Drei Molotowcocktails sowie mit Farbe gefüllte Flaschen werden gegen das Gebäude geschleudert. Auch gegen das Kanzleramt fliegen mit Farbe gefüllte Weihnachtskugeln. Bekennerschreiben richten sich gegen die Klimapolitik und den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Die 149 Berliner Abgeordneten schenken sich höhere Diäten. Ihre Bezüge steigen erstmals seit 2001 um 9,6 Prozent, also um 282 Euro auf 3233 Euro. Gegen eine Millionenzahlung wird der Prozess gegen den einstigen Vorzeige-Unternehmer Lars Windhorst, 33, zum Teil eingestellt. Der Manager mit Wohnsitz in London gestand vor dem Berliner Landgericht den Vorwurf der Untreue.

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