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CHRONIK: Letzte Klappe für Neukölln

Riefenstahl und Fassbinder stellten hier ihre Filme fertig, auch „Der Medicus“ wurde im Kopierwerk Geyer bearbeitet. Nach mehr als 100 Jahren ist nun Schluss.

Der 17. September 1917 war für das noch junge Filmkopierwerk Geyer in der Harzer Straße 39 ein rabenschwarzer Tag. Der damals übliche Nitrofilm war leicht entzündlich, Brände in der Branche nicht selten, nun traf es das Neuköllner Unternehmen, wie in einer frühen Firmenchronik geschildert wird: „Im Tresorraum hatten sich Teile der dort lagernden Negative entzündet. Ein starkes Geräusch, verursacht von den aus dem Ventilatorschacht strömenden Gasen, rief gegen halb drei Uhr nachmittags allgemeine Aufregung hervor, und schon nach wenigen Sekunden schlug eine gewaltige Stichflamme aus dem vom Gasdruck zersprengten Tresor im Hof empor. Im Nu hatte das Feuer sämtliche Etagen des Hauses ergriffen.“ Beim Sprung aus den Fenstern verletzten sich Angestellte teilweise schwer, das Filmlager brannte völlig aus. Immerhin führte das zur Änderung der polizeilichen Vorschriften für die Filmlagerung, und Geyer entwickelte selbst feuersichere Schränke, die zum Patent angemeldet wurden.

Das Unternehmen war vor gut 100 Jahren, am 15. Juli 1911, gegründet worden. Es war das erste in Deutschland, das alle Arbeiten übernahm, „die an dem von den chemischen Fabriken gelieferten Rohfilm außer der fotografischen Aufnahme vorzunehmen sind“, wie in einer frühen Werbebroschüre hervorgehoben wurde. Diese Form der Arbeitsteilung war neu, zuvor hatten die Filmunternehmen alles im eigenen Hause erledigt. Die Gründung des Kopierwerks markierte damit eine wichtige Station in der Entwicklung des deutschen Films, und so ist es irgendwie konsequent, dass auch das Ende diese historische Dimension besitzt – als Indiz des Wandels vom analogen zum digitalen Film: Im Rahmen eines Insolvenzverfahrens wurde das analoge Kopierwerk in Neukölln jetzt geschlossen, wie Niederlassungsleiter Markus Bäuerle bestätigte. So unterschiedliche Filmgrößen wie Leni Riefenstahl und Rainer Werner Fassbinder ließen hier einst ihre Filme fertigstellen. Angesichts der Verbreitung der digitalen Aufnahme- und Projektionstechniken war das analoge Auftragsvolumen in letzter Zeit rapide geschrumpft. Der neue Bully-Herbig-Film „Buddy“, „Tarzan“ und schließlich „Der Medicus“ waren die letzten Filme, die in Neukölln die analogen Prozeduren durchliefen. Künftig wird auch bei der CinePostproduction GmbH Geyer Berlin, wie das Neuköllner Werk offiziell heißt, nur noch digital gearbeitet. Der Betrieb geht also weiter, auch der Name wurde erhalten, die klassische Filmrolle aber und alle damit verbundenen Techniken haben in Neukölln ausgedient.

Eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten war, aber auch hochspezialisierte Fertigkeiten und Kenntnisse, in Jahrzehnten erworben, werden damit schwinden. Fachwissen, wie es etwa Michael Laskowski sich erarbeitet hat, der in Neukölln schon bei der Entwicklung der Negative von „Querelle“, Fassbinders letztem Film von 1982, mitarbeitete und jetzt Techniker bei der CinePostproduction ist – ein Mann, der beim Rundgang durch das stillgelegte Kopierwerk vor Informationen über die ausgemusterte Technik nur so sprudelt und von den Tagen erzählt, als im Dreischichtbetrieb binnen Kurzem 1000 Kopien eines Films hergestellt werden konnten. Oder als in den siebziger Jahren oft spätabends mit der letzten Maschine in Tempelhof oder Tegel gerade belichtetes Filmmaterial von Drehorten auch im Ausland hereinkam. Über Nacht entstanden Musterkopien, die morgens zurück zum Filmteam geschickt wurden. Erst dann sah der Regisseur, ob die gedrehte Szene gelungen war. Heute genügt ihm der Blick auf den Monitor.

Vorbei geht der Rundgang an metertiefen Chemikalientanks und mannshohen Kopiergeräten, manche von Geyer-Technikern entworfen, durch Räume, die „Ansatz“ heißen (fürs Ansetzen der Chemikalien) oder CTK („Chemisch-technische Prozesskontrolle“). Säckeweise liegen Zutaten der Filmentwicklung herum, und Blechkästen, gefüllt mit einer ascheähnlichen Substanz, harren des Recyclings. Rückstände aus den chemischen Prozessen, wie Laskowski erklärt: „Nicht Asche, sondern zu 90 Prozent Silber.“

Stationen wie „Entwickler“, „Bleichbad“, „Fixierer“, „Putzraum“ ziehen vorbei, auch sperrige Metallrahmen mit Filmstreifen, die per Flaschenzug in die jeweilige Suppe versenkt wurden, später dann Trocken- und Nasskopierer mit „Dichroitischen Spiegeln“, um Farbstiche beim Kopiervorgang durch Beeinflussung des Lichtspektrums herauszufiltern. Das Einlegen des Films hatte in absoluter Dunkelheit zu erfolgen, beim Kopieren aufs Positiv gab es immerhin LED-Funzeln. Filme wie „Star Wars I“ und „Matrix“ sind hier durchgelaufen, Regisseure wie Wim Wenders und Herbert Achternbusch haben hier arbeiten lassen. Zuletzt war aber nur noch eine Handvoll Leute in den jetzt verwaisten Räumen tätig.

„Geyer-Werke AG“ steht noch immer an der denkmalgeschützten Backsteinfassade des Hauptgebäudes. Es entstand 1928 nach einem Entwurf des Architekten Otto Rudolf Salvisberg – ein repräsentativer, den Erfolg des Unternehmens widerspiegelnder Industriebau. Gegründet wurde es als Kino-Kopier-Gesellschaft mit erstem Sitz in der heutigen Sonnenallee 61/63, erst 1915 wurde daraus die Karl-Geyer-Filmfabrik. Deren Gründer und Namensgeber Karl August Geyer war zuvor technischer Leiter einer Filmproduktion in Lankwitz gewesen, heute würde sein damals neuer Service wohl als Start-up-Firma gehandelt werden.

Anfangs musste Geyer auf die handelsübliche, meist französische Technik zurückgreifen, ging aber bald dazu über, eigene Geräte zu entwickeln, so eine Perforiermaschine, um die für den Filmtransport unerlässlichen Löcher in den Filmrand zu stanzen. Auch trieb er mit Erfolg die Mechanisierung und Automatisierung des Kopierprozesses voran, hin zur modernen Filmfabrik. Den Ersten Weltkrieg überstand die Firma auch dank militärischer Aufträge für Fliegerkameras und der neuen Kinowochenschauen, ebenso die Revolutionswirren danach: Geyer zahlte hohe Löhne, das stimmte friedfertig. Er selbst konnte sich 1919 eine Villa am Zeuthener See leisten.

Um die später selbstverständliche Automatisierung durchzusetzen, bedurfte es anfangs einiger Überzeugungsarbeit, zur Not half eine List. So bestand der Schauspieler und Regisseur Harry Piel auf der herkömmlichen Handentwicklung seiner Filme, worüber sich Geyer einmal kurzerhand hinwegsetzte – und überzeugte. 1926 wurde die Firma zur Aktiengesellschaft umgewandelt, hieß nun Geyer-Werke AG, dehnte sich bei steigendem Erfolg immer mehr aus. Mit dem Neubau zwei Jahre später verdoppelte sich die Betriebsfläche auf 10 200 Quadratmeter, und die monatliche Kopierkapazität stieg auf drei Millionen Meter, bei 350 Mitarbeitern.

Zu den Filmen, die gegen Ende der Weimarer Zeit in Neukölln bearbeitet wurden, gehörte „Das blaue Licht“, der erste Spielfilm Leni Riefenstahls. Geyer ließ sie einen Schneideraum gratis nutzen, stellte ihr eine Cutterin zur Seite – eine Gefälligkeit, die sich auszahlte. Drei Jahre später bestand sie darauf, dass ihr Reichsparteitagsfilm „Triumph des Willens“ bei Geyer bearbeitet wurde. Hitler selbst besuchte am 6. Dezember 1934 das Kopierwerk in der Harzer Straße und ließ sich zu seiner Zufriedenheit Teile des Propagandawerks vorführen. Auch Riefenstahls Olympiafilm wurde in Neukölln fertiggestellt, eigens war dafür ein neues Gebäude entstanden und an die Olympia-Film GmbH vermietet worden. Im Zweiten Weltkrieg florierte das Geschäft schon durch die immer längeren Wochenschauen. Da die Mitarbeiter das noch unzensierte Filmmaterial zu sehen bekamen, waren sie über den Frontverlauf stets gut informiert. Auch Filme, die streng geheime Tests von „Wunderwaffen“ dokumentierten, durchliefen die Kopierprozesse. Im Verlauf des Krieges wurden Teile der Firma in die Provinz ausgelagert. Betriebsleiter am Stammsitz wurde Walter Geyer, Sohn des Firmengründers, der am 23. Februar 1945 bei einem Tieffliegerangriff ums Leben kam.

In den ersten Nachkriegswochen wurde der Maschinenpark im weitgehend unbeschädigt gebliebenen Geyer- Werk von den Sowjets demontiert, nur einige ramponierte Maschinen blieben zurück. Und nach Einzug der Amerikaner in ihren Sektor, zu dem auch Neukölln gehörte, hatte Karl August Geyer als ehemaliges NSDAP-Mitglied einige Mühe, „entnazifiziert“ zu werden und seinen Betrieb zurückzuerhalten. Dies fiel mit dem Beginn der Berliner Blockade zusammen, so dass Geyer den Neuköllner Betrieb stilllegte und in Hamburg einen Neubeginn versuchte.

Erst Mitte der fünfziger Jahre ging es in der Harzer Straße weiter, die Hamburger Niederlassung war an ihre Kapazitätsgrenze gekommen. Nach wenigen Jahren schon arbeiteten wieder 300 Beschäftigte in Neukölln, das erneut Hauptsitz des Unternehmens war. 1959, nach dem Tod seines zweiten Sohnes Karl Herbert, rückte der Firmengründer, nun bereits 79 Jahre alt, erneut an die Firmenspitze und hatte sie bis zum Tod 1964 inne. Mittlerweile gab es im umgebauten „Olympiagebäude“ ein Synchronstudio, auch das Fernsehen gehörte jetzt zu den Auftraggebern. Und mancher deutsche Regisseur von Rang ließ dort seinem Werk den letzten Schliff geben – so eben in den siebziger Jahren Rainer Werner Fassbinder.

1996 übernahm die CineMedia Film AG die Geyer-Gruppe. Wie ihre Tochter, die CinePostproduction mit Hauptsitz in München und Nebensitz in Berlin-Neukölln, ist auch die CineMedia Film insolvent. Stephan Ammann, Münchner Rechtsanwalt und seit 1. November Insolvenzverwalter der CinePostproduction, ist aber optimistisch, dass ein Investor gefunden wird. Bis dahin gelte: „Wir liefern alle Aufträge termingerecht ab.“ Beim „Medicus“ hat das bekanntlich geklappt.

1911 wurde die Firma gegründet – die erste ihrer Art in Deutschland. Seit 1928 residiert sie in der Harzer Straße in Neukölln.

Zu den vielen Filmen, die hier bearbeitet wurden, gehört auch die „Matrix“-Trilogie.

Einer der letzten Filme, die bearbeitet wurden, war „Der Medicus“, der derzeit im Kino läuft.

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