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Berlin: Chronisten der Zwischenzeit

Harald Hauswald und Lutz Rathenow spüren in ihrem Buch „Gewendet“ dem Wandel Berlins nach

Die Taubenzecken hätten ihn fast umgebracht. Mit denen teilte sich der Fotograf Harald Hauswald Mitte der achtziger Jahre die Wohnung. In einem vom Krieg halb zerstörten Haus war das, Prenzlauer Berg, zweiter Hinterhof. Im Dach die Tauben, neben ihnen die Zecken.

35 Blutvergiftungen hatte er, erzählt Hauswald, als er jetzt zusammen mit seinem langjährigen Kompagnon, dem Schriftsteller Lutz Rathenow, 20 Jahre später mal wieder in dem Hinterhof an der Kastanienallee vorbeischaut. Dass er daran nicht gestorben ist, war Glück. Dann erinnern sich die beiden, wie Rathenow Hauswalds bissigen Mitbewohnern das Gedicht „Die Vampire vom Prenzlauer Berg“ widmete. Die beiden Mittfünfziger mit den struppigen grauen Bärten lachen herzlich, bevor ihre Erinnerungen weiterwandern zu geheimen Punkkonzerten im Hinterhof oder dem heimlichen Wohnungsausbau mit geklauten Holzplatten von der Baustelle nebenan.

So ist das bei Hauswald und Rathenow, mit den Taubenzecken im Kleinen wie der DDR im Großen: Sie haben die beiden nicht kaputtgekriegt, sondern waren – zumindest in der Rückschau – eine teils schreckliche, teils absurde Herausforderung, an der man litt, aber durch die man menschlich und künstlerisch reifte. „Wir haben das Scheitern und die Depression in Energie verwandelt“, sagt Rathenow. Hauswald ergänzt: „Für den schlimmsten Fall hatte man immer den Gedanken an den Ausreiseantrag im Hinterkopf.“

Von Hauswalds alter Wohnung ist nichts mehr zu sehen, verschwunden sind auch die Taubenzecken. Stattdessen frisch sanierte Fassaden, ein gepflegter Hinterhof, Sinnbild der neuen Zeit, in der aus dem Refugium für DDR-Dissidenten ein schickes Szeneviertel geworden ist. An diesem Ort machte Hauswald, der große Fotochronist des DDR-Lebens jenseits der offiziellen Fassade, vor 20 Jahren einige Fotos, die wertvolle Zeitdokumente sind. Sie zeigen Kinder, die auf Schutthaufen im Hinterhof spielen. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, die Bilder wurden kurz nach dem Krieg aufgenommen. Eines war im Buch „Ost-Berlin“ abgedruckt, das zuerst Ende der achtziger Jahre erschien und 2005 mit überraschend großem Erfolg neu veröffentlicht wurde. Ein ähnliches Foto findet man nun, gepaart mit einer Aufnahme vom selben Ort aus der Gegenwart, im Buch „Gewendet“, einer neuen Sammlung von 173 Hauswald-Fotos und einem halben Dutzend Rathenow-Texten über das Lebensgefühl in Berlin und Ostdeutschland vor und nach dem Mauerfall.

Es ist ein nachdenkliches Buch geworden, eine abwägende Collage alter und neuer Impressionen, verbunden mit einfühlsam-ironischen Bildunterschriften. Nostalgie, einfache Weisheiten oder Verurteilungen erwartet man vergebens von den beiden einstigen Dissidenten, denen die Stasi bis zum Ende der DDR das Leben schwer machte. „Es geht nicht darum, die damalige Zeit als schlecht und die Gegenwart als gut zu beschreiben“, sagt Rathenow, während die zwei zu einem weiteren für sie bedeutsamen Hinterhof spazieren. „Sondern wir wollen von spannenden Zeiten damals und von spannenden Zeiten heute erzählen.“

Hauswalds sensibel-subversive Bilder und Rathenows analytische Essays handeln viel von Widersprüchen, ambivalenten Gefühlen. Die Fotos sind als Gegenüberstellungen verschiedener Epochen angelegt, erschöpfen sich aber nicht im simplen Vorher-Nachher. Sie sind Studien der Menschen und des Landes, reflektieren differenziert die Veränderungen der vergangenen 20 Jahre. Rathenows Lieblingsbild nahm Hauswald letztes Jahr in der Friedrichstraße auf: ein junger Mann am Rande des Gehwegs im Schneidersitz, vor sich einen Laptop. Student? Oder Börsenmakler? Man weiß es nicht. Rathenow: „Das Bild steht für das neue Labyrinth der Möglichkeiten, Scheitern eingeschlossen.“ In seinen Texten stehen sarkastische Beobachtungen der „Duldungsstarre“ der DDR-Bürger neben nachdenklichen Worten über die staatliche Wiedervereinigung, deren rasantes Tempo – so eine von Rathenows Thesen – dazu beitrug, dass sich im Gegensatz zur äußeren Einheit die innere Ablösung von der DDR umso langsamer vollzieht.

Auch Rathenow und Hauswald selbst scheinen sich ein wenig in diesem Zwischenstadium zwischen Abschied und Neuanfang zu befinden, zumindest wenn sie Orte aus ihrer Vergangenheit aufsuchen, wie jetzt die verzweigten Hirschhöfe hinter den frisch renovierten Fassaden der Kastanienallee. Hier wurde im Sommer immer gegrillt, erinnern sie sich, es gab ein improvisiertes Kino. Ein Treffpunkt für Künstler und Andersdenkende, eine jener Nischen, die nie zu politisch werden durften, sonst schritt der Staat ein. Einen seiner Stasi-Beschatter hat Rathenow später, nach 1989, an einer Kreuzung getroffen. „Der verkauft jetzt Versicherungen und sagte: ,Wenn ich mal wieder was für Ihre Sicherheit tun kann …‘“, erzählt Rathenow. Dann lachen die beiden Männer wieder, wie über ein gemeinsam durchstandenes schrecklich-verrücktes Abenteuer, das man nie wieder erleben möchte, aber ohne das man sich ärmer fühlen würde.

Gewendet – Vor und nach dem Mauerfall: Fotos und Texte aus dem Osten von Harald Hauswald und Lutz Rathenow. Jaron Verlag, Berlin. 128 Seiten, 19,90 Euro. Lesung/Fotopräsentation: 3. April, 19 Uhr, Böll-Stiftung, Rosenthaler Str. 40/41, Hackesche Höfe; 20. April, 19 Uhr, Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128.

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