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Berlin: Cilly Drechsler (Geb. 1910)

„Fräulein Lehrerin, ick hab Sie jeseh’n, janz barfuß in Sandalen!“

Laura Cäcilia steht in der Geburtsurkunde. Gerufen wurde sie Cilly, Cillchen, Weible, Ama oder James. Mit James zogen die älteren Brüder sie auf. Sie hatte als Kind den Namen deutsch ausgesprochen. Eine frühe Lebensschule.

Im Volksschulalter ging es im Pferdefuhrwerk von Westfalen nach Berlin, wo der Vater als Prokurist arbeitete. Die Schule fand Cilly grässlich. Eine viel zu große Klasse, ein vom Krieg traumatisierter Lehrer. Cilly wunderte sich über Kinder, die unter dem Rohrstock weinten. Von ihren Brüdern wusste sie: Man heult nicht.

Weible wurde sie von der Mutter gerufen. Die kam aus Schwaben und ging still in ihrer Rolle als Hausfrau auf und unter. „Das Cillchen braucht später nicht arbeiten“, sagte sie, „das heiratet eh.“ Entschieden anders sah das Tante Liddy, eine alleinstehende Opernsängerin. Üppig geschminkt und fulminant kostümiert betrat sie die Bühnen Magdeburgs als Hexe, Fricka oder Elektra. Tante Liddy setzte sich dafür ein, dass die energiegeladene Cilly zu den Wandervögeln ging und ihren Bewegungsdrang in einer Ausbildung zur Sportlehrerin bündeln konnte.

Bei den Wandervögeln lernte Cilly nicht nur Lieder, Feuermachen und in wenig damenhafter Kleidung durch die Lande zu ziehen („Fräulein Lehrerin, ick hab Sie jeseh’n, janz barfuß in Sandalen“) – sie lernte auch Hellmuth kennen. Der zehn Jahre Ältere hatte es auf seiner Suche nach einem Leben jenseits bürgerlicher Enge schon etwas weiter gebracht und mit anderen die FSJ gegründet, die Freie Sozialistische Jugend. Der schüchterne Mann mit der geheimnisvollen Aura geriet als Sozialist und Vertrauensmann der Gewerkschaft ins Visier der Nazis. Es folgten Hausdurchsuchungen und Verhöre.

Als Cilly sich 1933 als Lehrerin mit einer Klasse in Agnetendorf aufhielt, wurde gerade gewählt. Hitler erhielt alle Stimmen bis auf eine. Empörung unter den Anwesenden. Sofort wurde nachgeforscht. Jemand verdächtigte sie: „Das waren doch Sie, Fräulein Locke!“ Cilly antwortete trocken: „Na dann weisense das mal nach.“

Zu Hellmuth sagte sie nicht viel später: „Erst scheiden lassen, sonst läuft nix.“ 1936 ließ sich Hellmuth von seiner zweiten Frau scheiden, und Cilly gab ihm das Jawort. Dann kam der Krieg und zwang den Ehemann in die Uniform der verhassten Nazis. Er erhielt zwei Heimaturlaube, Cilly bekam zwei Kinder: 1940 Gerhard, 1943 Helga. Die Front blieb dem Vater erspart, die Gefangenschaft nicht.

Berlin nach dem Krieg, kalt, grau und in Trümmern, ausgehungert. Cilly bewohnte mit den Kindern zwei karge Zimmer, in denen der Geruch nach verbrannten Büchern und Möbeln hing. Als schließlich Hellmuth aus der Gefangenschaft heimkehrte, zeigte sich, wie gut Cilly allein zurechtgekommen war. Die Machtverhältnisse mussten neu geklärt werden. Auch zwischen Gerhard und dem heimgekehrten Vater gab es Spannungen. Der Neunjährige sah sich als rechtmäßigen Geliebten der Mutter. Sie versuchte, die Enttäuschung des Kindes durch weiteres Verwöhnen zu lindern.

Während Helga später ebenfalls eine engagierte Lehrerin wurde und eine Familie gründete, trieb Gerhard trotz großer Talente und gewinnenden Charmes wurzellos durchs Leben: abgebrochene Studien, Jobs, gescheiterte Ehen, Alkohol, häufige Krankheiten, der Einzug bei der Mutter im Mannesalter, der Tod mit 55 Jahren.

Die Ehe zwischen Cilly und Hellmuth kann als respektvoll, tolerant und freundlich beschrieben werden. 1971 erhielten beide die Diagnose Krebs. Hellmuth starb noch im selben Jahr, Cilly verlor eine Brust.

Sie zog in eine Wohnung über der Familie ihrer Tochter, ließ sich nun Ama nennen, kochte den Enkeln und Nachbarkindern Grießbrei, las viel, hörte Musik und pflegte Freundschaften, die bis in Wandervogeltage zurückreichten.

Mit 92 kamen die Ängste. Luftangriffe, Russen, Beobachtung durch den Feind. Und immer wieder die eine schreckliche Szene, wie sie mit einem Rucksack voller Lebensmittel in Berlin aus dem Zug steigt. Plötzlich der Beschuss, herabstürzende Mauern, eine eingeklemmte Frau schreit verzweifelt um Hilfe. Cilly rennt weiter. Sie muss sich selbst retten.

Im Altersheim mochte Cilly es besonders, wenn Tochter und Enkelkinder ihr etwas vorsangen und sie streichelten. Und manchmal hörte man sie selbst mit brüchiger Stimme ein Lied aus Wandervogelzeiten singen: „Wir sind jung, die Welt steht offen … “ Anselm Neft

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