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Berlin: „Cool, da mitzumachen“

30 Kinder spielen mit in der Oper „Les Misérables“. Eines von ihnen ist Nikolas. Er spielt den Lumpenjungen Gavroche und muss sich auf der Bühne erschießen lassen

Morgen Abend stirbt Nikolas Primbas zum siebten Mal. Wieder wird er die Munition auflesen, die während der Revolutionswirren im Paris der 1830er Jahre zuhauf auf der Straße liegen. Wieder werden Schüsse knapp an ihm vorbeipfeifen, bis ihn der erste ins Knie trifft. Nikolas wird Schmerzen simulieren. Dann erwischt ihn eine Kugel am Kopf. Er taumelt, fällt. Kurz darauf ist Nikolas Primbas mal wieder gestorben. Oder vielmehr: das Straßenkind Gavroche, das Nikolas Primbas derzeit am Theater spielt.

Nikolas ist neun Jahre alt und eines von 30 Kindern, die in der Oper „Les Misérables“ im Theater des Westens auftreten. Und für sie alle war gestern Besuchstag im Zoo, die Leute vom Theater haben sie eingeladen. Nikolas und seine Freunde Michael, Johann und Arun zum Beispiel, die er bei den Proben kennen gelernt hat. Beim Zoobesuch regnet es in Bindfäden, aber Nikolas freut sich. Wer schon gestorben ist, den schrecken auch keine Löwen und Regen schon gar nicht. Kindercoach Thomas Hirschfeld vom Theater ist mitgekommen. Er hat im Zoo eine ähnliche Aufgabe wie im Theater: Er soll aufpassen, dass die Jungschauspieler nicht ausflippen.

„Es gibt schon hin und wieder welche, die nach zehn Shows meinen, dass sie schon sehr gut sind, weil Eltern und Verwandte das gesagt haben. Mein Job ist, ihnen beizubringen, dass sie es immer noch besser können.“ Dass er es immer noch besser können wird, glaubt Nikolas auch. Beim ersten Mal hat er gedacht: Hoffentlich vergess’ ich nix. Und dann ist es jedes Mal besser geworden, weil man ja nix vergisst, wenn man aufgeregt ist. Also er jedenfalls nicht. Aufgeregt war er, als der Mann vom Theater bei ihm zu Hause anrief und sagte: „Wir wollen es mit Dir probieren.“ Er wollte schon, seit seine Mutter zum ihm gesagt hatte „im Radio suchen sie junge Schauspieler, die in einer Oper mitmachen“, und ob er sich nicht bewerben wolle. Aufgeregt war er auch bei den beiden Castings, als er sah, wie viele andere das gleiche wollten wie er: auftreten. Auftreten bei den „Misérbles“, den Elenden, die am 26. September vergangenen Jahres im Theater des Westens anliefen.

Die Opernfassung ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Victor Hugo. 1500 Buchseiten, auf denen es um Ehre geht, um Freiheit, Ehre und Gerechtigkeit. Ein harter, schwerer Stoff nicht nur für jemanden, der in die vierte oder fünfte Klasse geht. Aber die Jugend nimmt es nicht so schwer. „Is’ doch cool, da mitzumachen“, sagt Nikolas. Wie er scheinen ziemlich viele der Straßenkinder auf Zeit zu denken. Die Theaterleute jedenfalls sagen, dass sie bisher keine Probleme hatten, neue junge Schauspieler zu finden. Das müssen sie. Umso öfter, je länger das Stück noch aufgeführt wird. Mit wie vielen sie inzwischen geprobt haben, können sie selbst nicht sagen. Das Kinderarbeitsschutz-Gesetz erlaubt 30 Auftritte, für die es Geld gibt – auch wenn es nur ein paar Euro sind. Mehr nicht. „Schade“, sagt Nikolas. Aber er will nicht klagen, er will sich halten wie ein Profi. Konzentration auf den nächsten Auftritt. Eine halbe Stunde vorher wird er sich die braune Schmutzfarbe ins Gesicht malen, seinen Straßenjungenhut aussetzen, auf die Bühne gehen und professionell sterben. Morgen und dann noch 23-mal.

Marc Neller

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