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Berlin: Cornelia Kraatz (Geb. 1957)

Wenn sie ihren Pink-Lederrock trug, war der Stock auch pink.

Im Jahr 1987 hatte die Berliner Caritas ein Problem. Ihre gesamten Daten von zwei Monaten: überschrieben. Unwiederbringlich weg. Die Caritas überlegte: Ist ihr einziger Rechner „IBN 36“ nicht viel zu wichtig, um ihn den Finanzkaufleuten zu überlassen? Man müsste jemanden einstellen, der sich in jenem täglich wachsenden Parallel-Universum auskennt, das voll ungeahnter Verwaltungsmöglichkeiten war, wenn auch nicht ohne schwarze Löcher. Ein Reich, nicht ganz von dieser Welt, noch hieß es EDV, Elektronische Datenverarbeitung. Neben dem „IBM 36“ besaß die Berliner Caritas noch einen Drucker sowie drei Bildschirme.

Zuletzt waren zwei Bewerberinnen übrig. Die eine war katholisch, die andere evangelisch. Die Caritas nahm die katholische. Schade, dachte Cornelia Kraatz und war erstaunt, als die fürsorgende Einrichtung sich bald noch einmal meldete. Die Caritas hatte inzwischen erfahren, dass der richtige Glaube nicht immer hilft.

Zu ihrem zweiten Vorstellungsgespräch erschien Cornelia Kraatz in langem pinkfarbenen Lederrock mit Pink-Jackett. Nicht ausgeschlossen, dass sie beim ersten Mal in ihrem Lieblings-Mickeymouse-Sweatshirt gekommen war.

Wahrscheinlich war die Farbe Pink ebenso wenig wie die EDV in Gottes ursprünglichem Schöpfungsplan enthalten. Sprach das nicht für die Neue? Noch waren EDV-Spezialisten meist distinguierte Herren mit Schlips, die man nie zu sehen bekam. Die Fachbereichsleiterin EDV trug auf ihren High Heels eigenhändig schwere Monitore über den Flur, und im Übrigen war sie der Meinung, dass man die Geheimnisse der EDV möglichst mit vielen teilen sollte.

Zehn Jahre später besaß die Berliner Caritas bereits dreihundert Computer, und niemand war vor den Ideen der EDV-Fachbereichsleiterin sicher. Der erstaunten Öffentlichkeitsabteilung hatte sie schon vorgeschlagen, sich eine eigene E-Mail-Adresse einzurichten.

Eine Frau aus der Welt der Zeichen, total digital?

Wenige Orte auf der Welt sind so dicht besiedelt wie Cornelia Kraatz’ erste Wohnung es war. Sie teilte sie mit Otto und neun weiteren Wasserschildkröten, mehreren Igeln, der Nebelkrähe Calimero, den Katzen Schnurrli und Daisy, Strolch, dem Hund sowie den Mäusen Mike und Molto. Bewohner diverser Aquarien und Saisongäste nicht mitgerechnet. Andere Herbergsleiter hätten sich herausgeredet. Sie hätten gesagt: Meine Wohnung ist schon belegt! Aber kein kranker Spatz, keine ausgesetzte mexikanische Rotwangenschildkröte hat das je fürchten müssen. Cornelia Kraatz’ Arche Noah war für alle offen. Denn die wahre Mildtätigkeit ist kein Entschluss, vielleicht nicht einmal eine Tugend, sondern eine Lebensform. Sie ist ein Nicht-anders-Können. Und dann gab es noch Gunnar.

Cornelia Kraatz lernte ihn zur selben Zeit kennen wie Otto, die erste der zehn Wasserschildkröten. Da waren sie beide 15. In einer Tempelhofer Diskothek haben sie zusammen getanzt, am 18. November 1972. Später haben sie geheiratet.

Wahrscheinlich ist es mit dem Heiraten wie mit der Mildtätigkeit. Man heiratet nicht, wen man heiraten will, sondern wen man heiraten muss. Es ist ein Nicht-anders-Können. Dass der ordnungsliebende, pünktliche, genaue, zukünftige Ingenieur für Kraftfahrzeugtechnik und leidenschaftliche Rallyefahrer nicht unbedingt in den Zoo seiner Freundin passte, wusste er. Das Leben wusste es besser.

Die Natur räumt nicht auf, warum sollte sie es tun? Das störte ihn. Immerhin, sie hatten eine Verhandlungsbasis. Ein Rallyefahrer braucht ein Rallyeauto, einen Zugwagen, noch ein Auto, mit dem er fährt, wenn er keine Rallye fährt, und eins, über das er gerade Verkaufsverhandlungen führt. 1984 zogen sie in die gemeinsame Wohnung in Marienfelde, anfangs zu zweit. Als Gunnar Kraatz ein neues Auto wollte, zog Katze Daisy hinterher. Als er den Audi 80 Quattro wollte, wollte sie einen Garten. Ihre Eltern hatten auch einen. Der Kladower Garten gehörte zu ihrer Marienfelder Kindheit.

Und nur manchmal, wenn morgens sein linker Schuh innen nass war, weil der Igel darin geschlafen hatte, fragte Gunnar Kraatz sich kurz, ob er alles richtig gemacht hatte. Dabei tat es seiner Frau leid, dass sie schon bei ihrer ersten Nacht-Orientierungsrallye durch Berlin auf dem Beifahrersitz eingeschlafen war.

Die Frau des Rennfahrers hat die Fahrprüfung nie geschafft. Heute glaubt ihr Mann, dass das nicht instinktive Verweigerung war. Es war, sagt er, ein frühes Zeichen der Krankheit. Sie konnte nicht gut räumlich sehen. Eine Entzündung des Sehnervs.

Die unspezifischen Beschwerden häuften sich. Schmerzen in den Händen, Schmerzen in der Hüfte, sogar im Ohr. Die Ärzte waren ratlos. Und dann die Diagnose: MS, Multiple Sklerose, eine besonders aggressive Form. Zuletzt auch nur ein Datenverarbeitungsfehler, ein tödlicher. Eine Fehlinformation der eigenen Zellen.

Was man anerkennt, existiert. Cornelia Kraatz hat ihrer Krankheit bis zuletzt die diplomatische Anerkennung verweigert. Andere MS-Kranke lassen sich berenten. Aber wer arbeitet wie immer, ist der krank? Sie arbeitete. Anfangs halfen die Spritzen. Cornelia Kraatz trug nun keine Bildschirme mehr über die Flure, manchmal fiel sie plötzlich, und die Kollegen wussten nicht recht, was sie argwöhnen sollten.

1997 machte Cornelia Kraatz ihrer Krankheit das erste große, lange für undenkbar gehaltene Zugeständnis: Sie nahm einen Stock. Wenn sie nun ihren Pink-Lederrock trug, war der Stock auch pink. Genau wie die Brille. Kam sie in Rot, war der Stock rot. Nur ein ausgefallenes Accessoire mehr. Dass jeden Morgen mit der Chefin ein modisches Ereignis das Büro betrat, waren die Caritas-Kollegen längst gewöhnt.

Wenn ihr Mann sie nun von der Arbeit abholte, dann nicht nur, weil sie noch etwas vorhatten. Früher hatte der pünktliche Ingenieur sich geärgert, wenn seine Frau oben „Ich komme !“ ins Telefon rief und eine Stunde später am Ausgang erschien. Jetzt lernte er, was kein Rennfahrer besitzt – Geduld.

Cornelia Kraatz schaute für die Caritas in die Zukunft, die sie selbst nicht mehr hatte: Einmal, sagte sie, werden die Menschen im Internet Pflegeplätze für ihre Angehörigen suchen. Wir brauchen eine Homepage! Noch besah die Caritas ihre oberste Datenverwalterin und deren Zweitwelt-Visionen mit einer gewissen Nachsicht. Menschen werden in der Erstwelt gepflegt, warum sollten sie sich woanders informieren? Mögen andere eine Homepage haben – wir sind eine seriöse Einrichtung!

Wenn sie über Pflege nachdachte, dachte Cornelia Kraatz keineswegs an sich, obwohl sie seit dem Jahr 2000 den Rollstuhl nicht mehr verlassen konnte. Er passte nicht durch ihre Bürotür – die Caritas ließ die Tür verbreitern.

Irgendwann begann die Caritas wohl zu warten, dass die Kranke, die ihrer Arbeit täglich weniger gewachsen war, der ihre Kollegen gerne halfen, von selbst gehen würde. Aber davon wollte sie nichts wissen. Da wurde die Caritas nach Art derer, die schon lange warten, sehr eindeutig: Ihre „Freistellung“ und anschließende Kündigung im Sommer 2004 trafen Cornelia Kraatz ohne Vorwarnung.

Nun war sie der Krankheit ausgeliefert. Gunnar Kraatz wurde zum Pfleger seiner Frau, bald rund um die Uhr, arbeiten konnte er nicht mehr. Freunde und Kollegen kamen nicht mehr, bis auf eine Freundin aus der Finanzbuchhaltung – hatte sie denn wirklich gegen ihren Arbeitgeber klagen müssen?

Irgendwann machte Cornelia Kraatz ein letztes Zugeständnis. Auf ein rotes Tagebuch schrieb sie: „Conny – keine hundert Prozent mehr“. Es enthält nur wenige Eintragungen.

Gunnar Kraatz war sein letztes Rennen längst gefahren, aber nun fand er sich fast so allein wieder wie im Audi 80 Quattro bei Höchstgeschwindigkeit – nur war das Einzige, was noch fortschritt, der langsame Tod seiner schönen Frau. Er sah sie, die sich ein neues Handy kaufte, weil seine Farbe gut zum Kleid passte, mit neuen Augen. Er bewunderte ihre Geduld, ihre Selbstbeherrschung. Sie war nicht erpressbar, auch nicht durch den Schmerz. Gunnar Kraatz wartete auf die natürlichste Frage der Welt. Er wartete auf das: Warum gerade ich?

Die Arche-Noah-Frau und erste Datenverarbeiterin der Caritas hat diese Frage nie gestellt. Kerstin Decker

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