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Zur Sonne, zur Freiheit. Am heutigen Freitagabend werden sich wieder Radfahrer zur "Critical Mass" versammeln.

© Christian Mang

"Critical Mass"-Bewegung: Radfahrer erobern wieder Berlins Straßen

Am Freitagabend ist es erneut so weit: Beim Gruppenradeln der "Critical Mass" erobern Radfahrer Berlins Straßen. Bernd-Michael Paschke fährt seit vier Jahren mit. Und obwohl es eigentlich keine Anführer gibt, ist er mehr als ein gewöhnlicher Teilnehmer.

Er kann auch mal lauter werden. Das sagt er mehrfach von sich selbst. Obwohl Bernd-Michael Paschke überaus herzlich und an seinem Gegenüber interessiert daherkommt, nimmt man es ihm sofort ab. Gemeinsam, friedlich und gleichberechtigt Rad fahren – mehr wollen er und die Critical Mass, die Bewegung von Fahrradfahrern, die sich an jedem letzten Freitag und ersten Sonntag im Monat trifft, ja eigentlich gar nicht. Das hört sich entspannt an, aber wenn mehrere tausend Radfahrer durch die Straßen Berlins rollen, kochen die Emotionen schon mal hoch. Auch wenn Paschke immer wieder betont, dass es keine Anführer und keine Verantwortlichen gibt, so kann er sich an einige Vorfälle erinnern, bei denen er lauter wurde. Nicht nur gegenüber Rainer Paetsch von der Berliner Polizei, mit dem er sich an einen Tisch setzte und mit dem man doch ganz gut reden könne, wie er findet. Sondern auch gegenüber den Radlern. „Wir haben so ein paar Problemkinder“, sagt er, „Halbstarke“, die sich in der Masse verstecken und von dort aus Unruhe stiften. Dann löst sich Paschke aus dem Pulk und fährt nach vorne vor, etwa, um den Zug nach rechts zu lenken, damit ein Bus durchfahren kann. „Da haben die grauen Haare eine größere Aussagekraft, als wenn so ein Zwanzigjähriger ankommt“, sagt er. Diesen Vorteil setzt er ein, auch wenn es eigentlich gegen den kollektiven Geist der Critical Mass geht. Einige Mitfahrer bräuchten eben Denkunterstützung. Und die meisten, das ärgert viele Autofahrer, halten sich im rollenden Flashmob nicht an die Verkehrsregeln.

Einer aus der Masse. Auch am heutigen Freitag wird Bernd-Michael Paschke nicht allein in die Pedalen treten.
Einer aus der Masse. Auch am heutigen Freitag wird Bernd-Michael Paschke nicht allein in die Pedalen treten.

© Kai-Uwe Heinrich

Als Paschke 2010 zum ersten Mal mitfuhr, war es nur eine Handvoll Menschen, die die kritische Masse bildeten. „Ich bin da schon aufgefallen, weil ich älter und runder war“, sagt der 55-Jährige. Jetzt trifft er kaum noch Bekannte, geht unter in der Masse. Ein bisschen trauert er den alten Zeiten nach, als es noch eine kleine eingeschworene Gemeinschaft war. Paschke ist Chronist der Bewegung, führt Statistiken auf seiner Webseite, dreht Videos und übernimmt die Verantwortung für die Webseite. Er weiß viele Geschichten zu erzählen von Menschen, die er in der Masse traf und die ihn beeindruckt haben, etwa von einer Marathonläuferin, die er für lange Radtouren begeisterte, oder vom Fatbike-Fahrer, der mit seinen autoreifendicken Rädern 24 Stunden am Stück querfeldein fährt. „Was uns alle verbindet, ist die Leistungsbereitschaft.“

Innerhalb eines Jahres hat sich die Bewegung ungefähr verachtfacht, von 280 Radlern auf über 2000 bei der letzten Freitagstour Ende Juni. Obwohl die Bewegung auf den Geist der Masse setzt, schlägt die Schwarmintelligenz manchmal in die übermütige Richtung um. Etwa, als eine Gruppe den Korso in den Tiergartentunnel zog. Diese Gruppendynamik hat ihn erschreckt: „Es war wirklich schwer, nicht in diesen Tunnel reinzufahren.“

Diese Entwicklung ist sein Dilemma: Er mag das Gefühl, wenn der Korso die Straße für sich einnimmt, zu einem großen Körper wird, der die anderen verdrängt und unangreifbar wird. Aber er sieht auch die Gefahr und die Verantwortung, die die Vergrößerung mit sich bringt. „Mit der Macht muss man vorsichtig sein“, sagt er. Deshalb vermittelt er, spricht mit Einsatzleitern, wird auch mal laut, etwa, als jemand aus dem Polizeischutz einem Mädchen in die Speichen griff. Aber er ist auf Harmonie bedacht, vor allem zwischen der Bewegung und ihrer Außenwelt. Denn eigentlich wollten alle dasselbe: Friedlich am Verkehr teilnehmen. Deshalb will es sich Paschke mit der Polizei nicht verscherzen und pflegt den persönlichen Kontakt. „Unsere Gegner, wenn wir überhaupt welche haben, sitzen nicht in der Senatsverwaltung für Inneres, sondern in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.“ Politische Ziele weist er von sich, gleichzeitig fordert er neue Lösungen von den Stadtplanern. Er will Konfliktpunkte minimieren. Es könnte sein Lebensmotto sein.

Am heutigen Freitag geht es um 20 Uhr am Heinrichplatz in Kreuzberg los.

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