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Berlin: Damenwahl 1989

Es war das erste Mal seit Jahren, dass Harry Risser, Schlosser aus Plauen, ein Lokal betrat. Eigentlich wollte er nur irgendwo etwas essen.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass Harry Risser, Schlosser aus Plauen, ein Lokal betrat. Eigentlich wollte er nur irgendwo etwas essen. Ziellos fuhr er umher und landete zwanzig Kilometer von zu Hause entfernt, in einer Gaststätte im Kurort Bad Elster. "Ich sah ihn zur Tür hereinkommen und wusste sofort: Der ist es." Gewundert hat Eva Reinhold sich über diese Erkenntnis erst später. An jenem Abend handelte sie. Kaum hatte der Mann mit den lustig funkelnden Augen sich hingesetzt, als eine Frauenhand ihm auf die Schulter tippte und sagte: Damenwahl! Das war im September 1989.

Zufall oder Schicksal? Fest steht: Seit diesem Tag sind Harry und Eva ein Paar.

Für beide begann damals ein Kapitel, mit dem sie eigentlich schon abgeschlossen hatten. Beide hatten bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich. Ihre Kinder, sie hat eine Tochter, er einen Sohn, waren bereits erwachsen. Der Traum von der großen Liebe war ausgeträumt. Und nicht nur das. Harry und Eva waren davon überzeugt, dass man sich nur auf sich selbst verlassen kann. Nicht gerade optimale Voraussetzungen für eine funktionierende Dauerbeziehung. Doch Prognosen haben Harry und Eva schon damals nicht interessiert. Sie verließen sich auf ihre Gefühle. Und sie waren nach dem Abend in Bad Elster absolut eindeutig.

"Am Tag danach haben wir uns nochmal getroffen. Sonntag drauf bin ich wieder nach Berlin gefahren. Und habe meiner Freundin erzählt: Das ist der Mann, den ich heirate. Die hat mich für bekloppt gehalten. Vorher wollte ich gar nicht und dann auf einmal das", sagt Eva Risser, heute 54 Jahre alt. Wie ein Teeny habe sie sich benommen, sagt die quirlige, gerade mal 1,50 Meter große Frau. Ganz aufgekratzt sei sie gewesen. Harry, das war für Eva, die gerade eine Krebserkrankung hinter sich hatte, auch so etwas wie eine Rückkehr ins Leben.

"Man muss im Leben immer wiederstrampeln", sagt Harry Risser in seinem vogtländischen Dialekt. Und gibt eines der vielen Gleichnisse zum besten, die aus manchem einen Sprücheklopfer machen können. Für den etwas schüchtern wirkenden Harry Risser sind es Prinzipien, die sich in seinem Leben immer wieder bestätigt haben; Alltagsphilosophie. "Wenn ein Frosch in ein Milchglas fällt hat er zwei Möglichkeiten", sagt er. "Entweder er schwimmt gemählich bis er erschöpft ist und ertrinkt. Oder er strampelt stundenlang wie verrückt bis aus der Milch Rahm geworden ist, der ihn trägt." Harry Risser hat gelernt zu strampeln ohne dabei griesgrämig zu werden. Seine lebenslustigen Knopfaugen trügen nicht. Der zurückhaltende Schlosser ist ein unverbesserlicher Optimist. Ohne Evas Entschlossenheit und Harrys beständigen Optimismus hätten die beiden es wohl auch nicht geschafft. Die zwölf Jahre, in denen Harry und Eva eine Wochenendbeziehung Berlin-Plauen führten, waren nicht immer leicht. Nach der Wende verlor Eva ihren Job. Der Arzt, bei dem sie in Friedrichshain als Sekretärin gearbeitet hatte, schloss seine Praxis. "Ich habe mich umorientieren müssen", sagt sie ganz ohne Bitterkeit. Heute ist sie Schwesternhelferin in einer Charlottenburger Klinik.

Dann der Rückschlag. Nach einem Arztbesuch lautete die Diagnose: Der Brustkrebs ist zurückgekehrt. "Mit Harry konnte ich darüber reden. Meine Krankheit war für ihn nie ein Grund, um an unserer Beziehung zu zweifeln. Im Gegenteil. Er hat immer zu mir gestanden, hat mich gestützt. Mir war klar, egal was passisert, Harry hält zu mir", sagt Eva. "Es ist viel leichter gemeinsam schwere Zeiten durchzustehen", weiß sie heute.

Zu wissen, dass man auch in Krisenzeiten nicht verlassen wird, ist für beide eine wichtige Erfahrung. Doch es ist nicht der Kern ihrer Beziehung. Ihre Liebe ist keine Notgemeinschaft. "Auch als wir noch nicht zusammengewohnt haben, haben wir jedes gemeinsame Wochenende genossen" sagt Eva. "Ich fieberte diesen Tagen immer entgegen. Wenn Harry unten klingelte, habe ich im Flur schon Anlauf genommen, um ihm in den Arm zu springen", sagt sie und lacht dabei. Dann erzählt sie, von Lachen unterbrochen, wie sie an einem Freitagabend beinahe der Nachbarin in den Arm gesprungen wäre, als sie Harry erwartete.

2001 - ein Jahr vor seiner Pensionierung - wurde Harry von seiner Firma in Plauen entlassen. Er behielt seine Wohnung - zog aber nach Berlin zu Eva. Damals war er 60 Jahre alt und dachte noch nicht daran aufzugeben. "Ich wollte bis zur vollen Rente arbeiten". Und er fand eine neue Stelle. "Zwar war die nur befristet. Aber es fehlte ja auch nur noch ein halbes Jahr bis zur vollen Rente" sagt er. Und hat dabei einen Ton in der Stimme, der sagt: Seht her! Es geht doch!

Harry und Eva Risser gehören zu den Menschen, die mit dem, was sie erreicht haben, zufrieden sind. Sie träumen nicht von einem anderen Leben. Jetzt haben sie geheiratet.

Ursula Engel

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