zum Hauptinhalt

Berlin: „Dann hörten wir den Befehl: Feuer“

Von Amory Burchard Schöneberg. „Waren Sie glücklich, dass Sie überlebt haben oder haben Sie sich schuldig gefühlt?

Von Amory Burchard

Schöneberg. „Waren Sie glücklich, dass Sie überlebt haben oder haben Sie sich schuldig gefühlt?“, fragt ein Junge aus der ersten Reihe. Edo Magnalardo hat eben noch lebhaft gestikulierend von seinem Alltag im Fabriklager eines brandenburgischen Munitionswerkes berichtet. Von den zwei Tellern wässriger Suppe, die sie am Tag bekamen. Von den Wurstbroten, die ihm „der nette Chef“ zusteckte, und von den schneidenden Befehlen des „harten und kalten Chefs“. Jetzt legt der 80-jährige Rentner aus Mittelitalien die Hände auf den Tisch und guckt den Sophie-Scholl-Schüler mit großen Augen an.

Edo Magnalardo überlebte das Massaker, das die Wehrmacht am 23. April 1945 an italienischen Militärinternierten in Treuenbrietzen verübte. Er ließ sich bei der Erschießung, zu der er sich mit 150 Landsleuten an einer Sandkuhle aufstellen musste, lebend fallen. Er blieb unter den Leichen liegen, bis alles ruhig war. Es fällt Edo Magnalardo schwer, darüber zu sprechen. Er gehört zu den wenigen Überlebenden einer fast vergessenen Gruppe von Zwangsarbeitern des Dritten Reiches. Im September 1943, nachdem das von Mussolini befreite Italien einen Waffenstillstand mit den Alliierten unterschrieben hatte, verhaftete die Wehrmacht 600000 italienische Soldaten und deportierte sie nach Deutschland – zur Sklavenarbeit. Aus Verbündeten waren Feinde geworden.

Die 15- bis 16-jährigen Schöneberger Gesamtschüler lauschen den Worten des alten Mannes geduldig. Und sie haben noch viele Fragen. Wie konnte es überhaupt zu dem Massaker an den Italienern kommen, wenn die Rote Armee das Lager doch schon am 21. April befreit hatte? Das war noch nicht die Befreiung, erklärt Magnalardo, nur ein sowjetischer Vortrupp. Der befahl den Insassen, das Fabriklager nicht zu verlassen, sondern auf die regulären Truppen zu warten, und zog dann weiter in Richtung Wittenberge.

Am 23. April kamen die Deutschen zurück ins Lager. Ein Soldat trieb die Italiener zu einem Hügel bei dem Dorf Nichel, 1500 Meter vom Lager entfernt. Dort wartete ein bewaffnetes Wehrmachtskommando. Die Gefangenen wurden in die Sandkuhle am Fuße des Hügels getrieben, die Deutschen stellten sich auf dessen Kuppe auf. „Wir verstanden, was unser Schicksal sein sollte“, erinnert sich Edo Magnalardo. „Dann hörten wir: Feuer!“ Bei den ersten Schüssen habe er sich instinktiv fallen lassen. Stunden später arbeitete Magnalardo sich vorsichtig nach oben. Außer ihm hatten sich noch drei weitere Internierte retten können. Sie wurden von der Roten Armee aufgegriffen und konnten bald nach Italien zurückkehren.

Schuldgefühle? „In mir haben sich Werte entwickelt als Konsequenz“, sagt Edo Magnalardo. „Das Wichtigste ist, miteinander zu reden. Im Dialog zur Übereinstimmung der Werte zu kommen, die nicht von Hass getragen werden.“ Im Frühjahr 1945 war es nicht Schuld, sondern Verantwortung seinen ermordeten Landsleuten gegenüber, was der damals 23-Jährige fühlte. Er kam im August 1945 zurück nach Treuenbrietzen, mit einer italienischen Regierungskommission, um die Leichen seiner Kameraden zu exhumieren und zu identifizieren. „Das war meine Verpflichtung den Familien der Ermordeten gegenüber.“ Den meisten der Toten konnten Magnalardo und ein anderer Überlebender n geben. Sie wurden unweit des Tatortes beigesetzt und 1967 auf den Waldfriedhof Zehlendorf umgebettet.

Die Militärinternierten haben bislang keine offizielle Geste des Bedauerns erfahren. Von der Entschädigung der Zwangsarbeiter sind sie ausgeschlossen. Seit August 2001 ist eine Verfassungsklage von 942 überlebenden Italienern beim Bundesverfassungsgericht anhängig. „Sollten wir jemals etwas bekommen“, sagt Edo Magnalardo, „stifte ich es für die Erinnerungsarbeit.“

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false