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Berlin: Das Aquarium

Hier mischt sich alles: Knittershorts und Hilfiger-Jeans, Latte Macchiato und Stier-Bier. Das junge Berlin ist Thema dieser zweiten Tour. In Prenzlauer Berg und Friedrichshain können Spaziergänger Wein trinken für einen Euro oder Eis essen im Möbelladen

STADTTOUR 2: VON EXISTENZGRÜNDERN UND LEBENSKÜNSTLERN

Jung sein in Prenzlauer Berg kann so aussehen: An einem Samstagmorgen wacht der junge Mann in einem Bett auf, das er sich aus Paletten gebaut hat, schnappt sich seinen Mischlingshund am Halsband (die Leine hat er verbummelt), verlässt das (unsanierte) Haus durch den mit Graffiti besprühten Flur, geht auf den Markt am Kollwitzplatz und kauft sich eine Ananas. Ach ja, er trägt natürlich Flip-Flops, (knittrige) Shorts und das Hemd offen. Nach dem Ananaskauf wird man ihn, die Ananas unterm Arm, den Hund an den Fersen, auf der Oderberger Straße wiedersehen, wo er sich bei „Kauf dich glücklich“ ein Erdbeereis holt, sich auf eins der Flohmarktterrassenmöbel setzt und zufrieden in die Sonne blinzelt.

Jung sein in Prenzlauer Berg kann aber auch so aussehen: Die junge Frau erwacht in einer Lignet-Rosé-gestylten Wohnung mit Sisalboden, zieht (Tommy-Hilfiger-)Jeans an, ein blaues Blüschen, flache Schuhe und steckt sich Perlen in die Ohren. Dann geht sie auf den Markt am Kollwitzplatz und kauft sich ein Stück Parmigiano (weil zu Pasta nur dieser Hartkäse wirklich stilecht ist). Später setzt sie sich bei „Kauf dich glücklich“ auf die Terrasse, streichelt den Hund eines jungen Mannes, der eine Ananas dabei hat und süß ist, aber doch ein bisschen zu lässig gekleidet, und bestellt einen Latte Macchiato. „Was machst du aus der Ananas?“, fragt sie.

Kurz gesagt: In Prenzlauer Berg (und Friedrichshain) gibt’s alles. Es mischen sich Knittershorts und Hilfiger-Jeans, Latte Macchiato und Stier-Bier. Hier darf man alles offensiv präsentieren – die totale Abwesenheit von Eitelkeit oder ein Festival der Eitelkeiten – und es wird höchstens mit den Achseln gezuckt. Es herrscht eine Großzügigkeit im Umgang miteinander, die Prenzlauer Berg und Friedrichshain mit Kreuzberg gemein haben. Und wer hier spazieren geht, verbringt vor allem einen lustigen Tag. Lustig, weil an jeder Ecke jemand eine neue verrückte Idee umgesetzt hat.

Denn anders als in anderen Wohngebieten leben die Menschen hier nicht abgeschottet voneinander in einer Umgebung, die schon lange festgefügt ist und sich wie ein Rahmen um ihr Leben spannt. Hier prägen viele das Leben auf der Straße selbst und immer wieder neu. Hier sind die Köpfe der Menschen so durchsichtig wie Aquarien, man sieht Ideen aufblitzen wie bunt glitzernde Fische und wieder verschwinden. Das „Kauf dich glücklich“ an der Oderberger Straße zum Beispiel ist so eine bunt glitzernde Idee: ein Laden, in dem zwei junge Leute kurzfristig ihre überzähligen Möbel hatten verkaufen wollen, als die Wohnung endgültig zu voll wurde – jetzt gibt’s auch Klamotten von Designern aus der Umgebung und das beste Eis rundum. Noch so eine Idee: das Café des Weinhändlers Philippe Gross an der Fehrbelliner Straße 57, der alle Getränke für nur einen Euro verkauft – einfach, weil er sich so geärgert hat, dass die Preise immer weiter steigen im Szenebezirk.

Zu behaupten, nur in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain wäre Berlin jung, ist anmaßend. Berlin ist eine Stadt, die fast überall ein bisschen im Aufbruch ist. Aber zutreffend ist: Friedrichshain und Prenzlauer Berg sind in vielerlei Hinsicht die jüngsten Bezirke der Stadt. Einmal rein äußerlich: Weil nämlich kurz nach der Wende Dutzende Kieze zu Sanierungsgebieten ausgerufen wurden und die Fassaden wohl nirgendwo noch so frisch und farbig leuchten. Die Rykestraße nahe dem Kollwitzplatz zum Beispiel sieht aus wie das Bild von einer Konfektschachtel mit den Fassaden in Orange, Rosé, Gelb, Rot oder sogar Blau. Und der Helmholtzplatz hat – seit die 1993 begonnene Sanierung fast abgeschlossen ist – sogar etwas Hamburgisches, so weiß die Häuser, so schick die Lokale. Als der Musikkonzern Universal mit fast 500 jungen Mitarbeitern von Hamburg nach Berlin zog, hatten die Umzugs-Scouts vor allem in dieser Gegend Wohnraum gehortet – monatelang waren mehr Hamburger Kennzeichen auf den Straßen zu sehen als Berliner. Ein weiterer Schritt übrigens in Richtung Bevölkerungsaustausch. Bis 1998 waren schon mehr als 60 000 Menschen weggezogen und genauso viele neu hinzu gekommen. Und 2002 war Pankow immer noch der Bezirk mit dem stärksten Zuzug.

Aber auch in demographischer Hinsicht gehört Prenzlauer Berg zu den jüngsten Stadtteilen. Wer sonntagmorgens im Nola’s vorbeischaut, im Café im Weinbergspark, wo die viel zitierten hippen jungen Leute frühstücken, der stolpert auf der Terrasse alle drei Schritte über ein eilig davonkrabbelndes Kleinkind, das dann geduldig vom Kellner wieder aufgesammelt wird. In diesem Bezirk sind 2002 mehr Babys geboren worden als in den meisten anderen: genau 3236. Nur in Mitte waren’s mehr Babys – aber auch nur 235. Prenzlauer Berg ist die Ausnahme von der Regel, die besagt, dass in Deutschland immer weniger Kinder geboren werden.

Und dann ist da noch diese eigenartige Stimmung. Hier ist Berlin am wenigsten motzig – obwohl gerade die jungen Leute in der aktuellen Krise am meisten Grund hätten. Vielleicht schöpft man ja nur aus Krisen besonders große Kräfte, vielleicht hat man ja nur drauf gewartet, als junger Mensch seine Lebenskrisen mal wieder selber meistern zu dürfen. Aber wer auf diesem Spaziergang durchs junge Berlin mit Existenzgründern und Lebenskünstlern spricht, der hört selten Klagen. Jungsein bedeutet eben, das Lebenskonzept noch nicht fertig zu haben, sagen sie, da ist noch Raum zum Ausprobieren. Ein Beispiel: In der Schliemannstraße trifft man auf Dutzende junger Existenzgründer, die sich, statt in herkömmliche Büroetagen zu ziehen, in Ladenlokalen niedergelassen haben. Grafiker sind sie oder Schreiber oder Designer, und den festen Job haben sie entweder verloren oder nie gehabt. Also schaffen sie sich eine eigene Arbeitswelt – ganz nah am Leben. Und mittags sitzen sie gemeinsam auf dem Bürgersteig und malen sich die Zukunft aus.

Unsere Touren finden Sie übrigens jedes Mal auch im Internet – samt Karten, Reportagen und Tipps. Schauen Sie rein unter www.tagesspiegel.de/stadtspaziergang .

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