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Berlin: Das Ende der Schönwettergesellschaft – auch für den öffentlichen Dienst

Von Dr. Ehrhart Körting, Senator für Inneres

Vor 55 Jahren, am 24. Juni 1948, fand in WestBerlin die Währungsreform statt. Seitdem leben wir im Aufschwung, manchmal unterbrochen, aber im Ergebnis im Daueraufschwung. Er ist selbstverständlich geworden. 1948 hatten wir die 48-Stunden-Woche, heute wird für die 35-Stunden-Woche gestreikt. Heute haben wir sechs Wochen Jahresurlaub. Seit 55 Jahren steigen die Gehälter. Auch dies ist so selbstverständlich geworden, dass man für Ausnahmen ein neues Wort erfinden musste: Nullrunde.

Seit 55 Jahren streiten wir öffentlich über die Verteilung von Wohlstand, über ein „Mehr“, jede Gruppe übrigens mit dem Auftreten, dass sie einen Anspruch auf „mehr“ hat. Besonders deutlich ist dies bei den Solidarpaktgesprächen für den öffentlichen Dienst Berlins geworden. Die Terminologie ist entlarvend, wenn in Verlautbarungen oder Flugblättern der Gewerkschaften die Rede davon ist, man würde auf Gehaltserhöhungen für die nächsten Jahre „verzichten“. Verzichten kann man nur auf etwas, auf das man einen Anspruch hat. Genau den gibt es aber nicht, den Anspruch auf jährliche Gehaltserhöhung. Den haben wir nur in unserem Schönwetterhinterkopf. Das war immer so, also muss es auch künftig so sein.

Den ersten Bruch gab es in den neuen Bundesländern. Wiedervereinigung bedeutete nicht automatisch Gehaltsvorsprünge, Verbesserung des Lebensstandards, sondern auch Risiko des Arbeitsplatzverlustes und Abwicklung ganzer Betriebe und Verwaltungen. Wahrscheinlich ist es diese historische Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer, dass die Solidarpaktgespräche in Berlin im Osten der Stadt eher auf Akzeptanz stießen als im Westen. Oder anders ausgedrückt: Die Menschen im Osten sind in dieser Frage weiter. Sie haben erfahren und wissen, dass es nicht nur nach oben geht.

Der Gesellschaft in der alten Bundesrepublik steht diese Bewusstseinsänderung noch bevor. Unsere Instrumente, auch die Instrumente der Politik, waren darauf eingerichtet, Zuwächse zu verteilen. Sie sind nicht erprobt bei der gerechten Verteilung von Einschnitten. Von den sieben fetten und den sieben armen Jahren Ägyptens in der Bibel haben wir nichts gelernt. Die Bundesrepublik hatte keinen biblischen Joseph, der im Wohlstand für die Not zurücklegte. Im Gegenteil, Berlin hat seit 1990 noch in der Not mit vollen Händen ausgeteilt: Bankgesellschaft, Wohnungsbau, Wohnumfeldverbesserungen, Nichtweitergabe von Mietsteigerungen, Zusatzleistungen im sozialen Bereich, Kündigungsschutz, Max-Schmeling-Halle, Velodrom, Olympiastadion. Die Kette ist endlos.

Die Gesellschaft lernt jetzt, erwachsen zu werden, lernt, dass es nicht nur ein „immer Mehr“ gibt. Erwachsen werden ist ein schwieriger Prozess. An unseren eigenen Kindern sehen wir es. Sie erkennen, lernen Widerworte gegen ihre Eltern, aber sie lernen auch, Verantwortung zu übernehmen. Zur Zeit ist unsere Gesellschaft aber noch im Stadium der Widerworte. Die Übernahme von Verantwortung sehe ich noch nicht, insbesondere nicht bei Arbeitgebern und Gewerkschaften. Beide denken nur in der Kategorie des „Mehr“. Ein letzter Abgesang. Die Schönwetterunternehmer und die Schönwettergewerkschaften werden sich ändern oder werden verschwinden. Es wird neue Unternehmensformen geben müssen. Das gilt auch für die Gewerkschaften, die sich derzeit eher zu Close-shop-Vertretungen der Arbeitsplatzbesitzer entwickeln, die im eigenen Verdienstinteresse lieber andere ausschließen, als sich den Interessen der Arbeitsplatzsuchenden zu öffnen. Wenn die Gewerkschaften ihre neue Rolle annehmen wollen, müssen sie verstehen, dass es künftig zwar auch um Verteilung von Zuwächsen geht, aber auch um die gerechte Verteilung von weniger.

Nach dem Weltkrieg hatten wir bis zur Währungsreform eine Übergangsgesellschaft. Jetzt sind wir wieder eine Gesellschaft im Übergang. Es gibt kein Zurück zur Schönwettergesellschaft und wir müssen neue Wege finden – im öffentlichen Dienst, aber auch anderswo.

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