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Berlin: „Das ganze Verfahren ist Quatsch“

Die Justiz ist chronisch überlastet, trotzdem widmet sie sich häufig Kleinigkeiten, wie im Duz-Prozess gegen den Abgeordneten Mutlu. Der wird jetzt auch noch am Telefon beschimpft

Jahrgang 68, da zählt das Du zum Umgangston, bei den Grünen ohnehin und auf Kreuzbergs Straßen sowieso. Im Fall von Özcan Mutlu spielte das für den Staatsanwalt keine Rolle: Zwei Jahre lang ermittelte er gegen den grünen Politiker, bis Mutlu am Dienstag zu 2000 Euro verurteilt wurde. Weil er im Streit um ein Parkverbot einen Polizisten duzte.

Oft hörte man es im Gerichtssaal kichern, ratlos schüttelten die Zuschauer den Kopf. „Das ganze Verfahren ist Quatsch“, sagt auch Rüdiger Warnstädt, bis letztes Jahr noch dienstältester Richter im Amtsgericht Tiergarten. Als absurd hat auch er zuweilen die Pläne der Staatsanwaltschaft empfunden – beispielsweise nachdem ein Übeltäter an einem Gemüsestand in eine Tomate gebissen hatte und des Diebstahls angeklagt werden sollte. Warnstädt protestierte energisch. „Da hat die Staatsanwaltschaft kapituliert.“

Andere Richter verfügen offenbar über eine höhere Schmerzgrenze, auch wenn die Berliner Justiz seit Jahren als chronisch überlastet gilt. Dann wird im Amtsgericht Tiergarten über tote Meerschweinchen verhandelt, Kanarienvögel, Tauben oder Wasserbeutel. So fand sich ein 25-jähriger Student auf der Anklagebank wieder, nachdem er beim Finale der Fußball-Weltmeisterschaft aus Übermut zwei Wasserbomben aus dem Fenster geschmissen hatte. Eine Frau bekam einen Spritzer auf ihre Kontaktlinse, ein Taschenrechner wurde nass. Das Verfahren um Sachbeschädigung und versuchte Körperverletzung wurde schließlich gegen eine Geldbuße von 250 Euro eingestellt.

Nach Warnstädts „vorsichtiger Schätzung“ kommen bei einem Verfahren wie dem gegen Mutlu schnell 30000 bis 50000 Euro zusammen. Doch nicht nur die Geldverschwendung ärgert den Ex-Richter, „auch der ideelle Wert“, den die Justiz genieße, werde durch solche Verfahren beschädigt. Die Aufgabe der Justiz sei es schließlich, Gerechtigkeit und Befriedung herzustellen. „Und nicht Vorgänge zu bearbeiten, die dann schnell eine Eigendynamik entwickeln.“

Sechs Zeugen ließ das Gericht im Du-Prozess aufmarschieren, sieben waren es im Verfahren um die tote Taube. Der 77-jährige W. wurde beschuldigt, das Tier mit einem Luftdruckgewehr vom Baum geschossen zu haben. Der Pensionär pochte auf einen natürlichen Tod. Drei Jahre lang ließ die Justiz den Fall nicht aus den Augen, nach zwei Prozessen fiel schließlich die Entscheidung: Einstellung des Verfahrens gegen 500 Euro Geldbuße. Auch im Fall Emma, dem verhungerten Meerschweinchen, ließ die Anklage nicht locker. Zwei Mal platzte der Prozess, weil das angeklagte Ehepaar Atteste schickte, dann endlich hieß es: Einstellung plus Geldbuße.

Und nun also das Du. Ex-Richter Warnstädt erinnert sich, dass die kumpelhafte Anrede schon einmal die Justiz beschäftigt hat. Vor rund 30 Jahren, als in Nürnberg eine Marktfrau einen Polizisten geduzt hatte. Auch dieser Prozess erregte bundesweit Aufsehen. „Das wurde aber schon damals als folkloristische Angelegenheit, als Unfug zitiert“, sagt Warnstädt. Einem ist nach dem Urteil allerdings endgültig das Lachen vergangen: Bei Özcan Mutlu stand gestern das Telefon nicht mehr still. „Was fällt dir ein, deutsche Polizisten zu beleidigen?“, schimpften die anonymen Anrufer und: „Verzieh dich nach Anatolien, du Kanake!“ Was über die Umgangsformen in der Stadt doch einiges verrät.

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