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Berlin: Das Gedächtnis der Zeitung

Beim „Tag der Archive“ konnte man auch dem alten Tagesspiegel nachspüren

Vielleicht ist ein „Tag der Archive“ erst gelungen, wenn er nicht nur den Verstand der Besucher erreicht, sondern auch ihre Emotionen. Dass dieses durchaus möglich ist, zeigte sich am Sonnabend bei den Führungen in den Räumen dieser Zeitung an der Potsdamer Straße. Da hält Thomas Friederich, Chef des Tagesspiegel-Archivs, eine Titelseite aus den 1970er-Jahren hoch, und entzückt ruft ein Mann um die Vierzig: „Genau damit sind wir aufgewachsen.“ Eine Mischung aus Nostalgie und Neugier treibt viele Berliner auch bei unwirtlichem Wetter zum Besuch des vierten vom Verband der Archivare Deutschlands organisierten Archivtags. Aber es gibt sogar noch eine Steigerung: den Mix aus Nostalgie und erlebtem Wissen, wie ihn Heinz Urban verkörpert.

„Für mich war dieses Archiv meine Universität“, sagt der 83 Jahre alte Urban. Die Gruppe ist gerade auf dem Weg vom Altarchiv mit den Zeitungsartikeln von 1945 bis Ende 1993 zum Konferenzsaal, wo Friederich die Bilder- und Textsuche im digitalen Zeitalter mit Hilfe einer Power-Point-Präsentation erklärt. Das ist für Heinz Urban so neu wie für die anderen Besucher, doch vorhin, zwischen den Regalreihen mit den angegilbten Papiermappen, fühlte er sich noch heimisch. Zwölf Jahre lang hat er hier selbst Texte ausgeschnitten, sie auf DIN-A-4-Seiten geleimt und in Berichten und Reportagen geschmökert. Er habe kein Abitur gemacht, berichtet Urban, sondern seine Bildung hier erworben, gleichsam neben der Arbeit. Diese verlor er 1958, als 31 Menschen das tägliche Zeitungswissen für die Zukunft sammelten. Diese Zahl weiß Heinz Urban noch genau. Wie so manches, wonach die anderen fragen. Heute will der alte Mann, der später als Bibliotheksleiter in Tempelhof tätig war, seinen persönlichen Erinnerungsort noch einmal sehen. Dabei lernt sogar er dazu, etwa dass sich der Archiv-Bestand heute mit lediglich sechs Leuten sichern und fortentwickeln lässt.

Auch das zum Bundesarchiv zählende Filmarchiv am Fehrbelliner Platz zielt auf Herz und Hirn der Besucher. In mehreren Räumen laufen bewegte Berlin-Aufnahmen aus verschiedenen Epochen. Unverfälschte Dokumentationen, für die eine Mitarbeiterin ein neues Wort erfindet: „unverknoppisiert“, in Anspielung an die von Guido Knopp serienweise angefertigten „History“-Sendungen im ZDF. Hier schauen die Besucher gebannt auf authentische Bilder vom Stadtschloss in alter Pracht oder von Wildschweinen im Grunewald und machen sich eigene Gedanken über Leo de Laforgues „Symphonie einer Weltstadt – Berlin wie es war“. Die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1941, wurden aber erst 1950 öffentlich gezeigt – mit schwülstiger Musik und dem Pathos der Wiederaufbaujahre unterlegt.

Darüber hinaus erklären Christina Letzerich und ihre Mitarbeiter Interessierten, wie sie Filme restaurieren. Eigentlich tun sie das zwar in Hoppegarten, aber an diesem Tag kurbeln sie eigens hier Demobänder durchs Sichtungsgerät. Vor unerwartet großem Publikum übrigens: „Wir hatten wegen der Orkanwarnung mit weniger Leuten gerechnet“, so Letzerich.Werner Kurzlechner

Auch heute zeigen noch einige Häuser ihre sonst verborgenen Schätze: das Archiv des Jüdischen Museums (Lindenstraße 9-12, Kreuzberg, von 10 bis 16 Uhr) und das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Archivstraße 12-14, Dahlem, von 9.30 bis 16 Uhr).

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