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Berlin: Das Gras wachsen gehört

Alles schon erlebt: Niemand besuchte so viel Parteitage, keiner kennt die Funktionäre und Amtsträger so genau.

Der Autor ist seit 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin.

„Ei, ei, ei, ein Interview schlüpft aus dem Ei“ – das ist der rituelle Testspruch für das Tonband, mit dem Brigitte Grunert ihre Interviews zu beginnen pflegt(e). Er beschreibt auch gut die Arbeitsweise, mit der sie sich ihren Themen nähert. Das geht nicht hopplahopp, sondern da wird auch unter Zeitdruck gründlich gebrütet, noch länger telefoniert und lieber ein Gespräch zu viel als zu wenig geführt. Häufig hatte ich nach solchen Recherchegesprächen das Gefühl, nicht zu wissen, was sie mir denn nun entlockt haben könnte. Las ich dann später die dazugehörende Geschichte, so war die Nuance erkennbar, die man selbst beigesteuert hatte, welches Steinchen des Mosaiks sozusagen das eigene gewesen ist. Nie war man als Quelle allein und auch nur selten erkennbar, es sei denn, man wollte es.

Brigitte Grunert recherchiert immer weit mehr als sie muss, sie schöpft ihre Texte aus einer Unzahl von adlerscharfen Beobachtungen und einem stupenden Gedächtnis, das einzelne Situationen (besser als Namen im Übrigen) noch dann zuverlässig abrufen kann, die man selbst schon fast vergessen hat. Dieses Archiv in ihrem Kopf hilft ihr natürlich immer wieder, Situationen zu antizipieren, schneller zu begreifen was läuft, als es einem selbst lieb ist. Sie ist ein Politprofi durch und durch. Nichts schreckt sie, alle Wasser haben sie gewaschen. Es gibt wenig, was sie nicht schon erlebt hat. Kaum jemand dürfte mehr Parteitage gesehen haben als sie. Wir Politiker haben unsere jeweils eigenen, sie aber musste über die Jahre zu denen aller Parteien. Tiefer Respekt.

In einem Punkt allerdings hat sie sich schwer getan und daher das Gras ausnahmsweise mal nicht so früh wachsen hören. Lange hat sie es für unmöglich gehalten, dass die SPD aus der großen Koalition rausgeht und mit der PDS zusammenarbeitet. Nicht, weil sie der SPD das handwerklich nicht zugetraut hätte, sondern, so glaube ich, weil es für sie selbst schwierig war, diesen Weg mit dem Herzen zu verstehen.

Sie hat die Ereignisse – wie immer übrigens – in der ihr eigenen Fairness journalistisch korrekt begleitet, aber mir schien, dass sie in dieser Frage befangen war. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist menschlich verständlich, und ich mache ihr daraus überhaupt keinen Vorwurf, denn auch ihre Biografie ist eng verknüpft mit dem Schicksal unserer Stadt, ihrer langen Teilung und dessen, was damit verbunden war und ist. Aber es zeigt, dass auch ein Profi Gefühle hat, die sie ja mit vielen in der Stadt geteilt hat.

Brigitte Grunert ist in den letzten beiden Jahren auch noch tätige Zeugin dieses Vorgangs geworden - zu sehen, dass sich die Einheit der Stadt auch auf anderen Wegen weiterentwickeln kann als es sich mancher in der westlichen Hälfte vorstellen konnte. Nun geht sie in den wohlverdienten Ruhestand, was wohl kaum bedeuten kann, dass man ihre (original Berliner) Stimme nicht mehr hören wird. Wäre auch schade.

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