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Berlin: Das Kreuz mit der Briefwahl

Immer mehr Berliner verweigern den Urnengang und stimmen vorher ab. Der Wahlsonntag selbst verliert damit an Bedeutung

Von Stephan Wiehler

Knapp eine Woche vor der Entscheidung ist die Bundestagswahl für viele Berliner bereits gelaufen. Sie haben ihre Kreuze schon gemacht – per Briefwahl oder in den Kabinen der bezirklichen Wahlämter. Der Landeswahlleiter erwartet in diesem Jahr ein Rekordergebnis bei den Briefwählern: Eine Woche vor der Wahl haben rund 400 000 Berliner Wahlscheine beantragt, um am 22. September nicht zur Stimmabgabe ins Wahllokal gehen zu müssen. Damit liegt der Anteil der Wahlberechtigten, die sich schon vor dem Stichtag entscheiden, mit 16,3 Prozent so hoch wie nie zuvor.

An der letzten Bundestagswahl beteiligten sich in Berlin 15,8 Prozent der Wahlberechtigten per Brief. Als Grund für den „deutlichen gesellschaftlichen Trend zur Briefwahl“ nennt der stellvertretende Landeswahlleiter Horst Schmollinger das veränderte Freizeitverhalten der Wähler. „Immer mehr Menschen neigen dazu, sich spontan zu entscheiden, was sie in ihrer Freizeit tun. Sie wollen sich nicht festlegen, ob sie Wahlsonntag in Berlin sind.“

Eine Entwicklung, über die Schmollinger nicht glücklich ist. „Das Wahlgesetz sieht die Wahl an einem bestimmten Stichtag vor, um für alle Wähler die gleichen Bedingungen zu gewährleisten.“ Nur der Gang in die Wahlkabine sei „der sicherste Weg“, die Freiheit der Wahl und das Wahlgeheimnis zu garantieren. „Die Briefwahl ist nicht als Normalfall gedacht“, erklärt der stellvertretende Landeswahlleiter. Das zeige sich schon daran, dass der Antrag auf Wahlschein begründet werden müsse, etwa mit der „Abwesenheit aus wichtigem Grund“ am Wahltag. Und noch ein anderes Argument führt Horst Schmollinger gegen die Briefwahl an: „Die Zahl der Wähler, die sich situativ entscheiden, nimmt zu. Wer sich zu früh festlegt, nimmt sich die Entscheidungsfreiheit, kurz vor der Wahl noch seine Meinung zu ändern.“

Ob die wachsende Zahl der Briefwähler auch Einfluss auf das Abstimmungsverhalten und damit auf den Wahlausgang haben könnte, ist für Wahlbeobachter schwer zu beurteilen. Nur wenig ist über die Briefwähler zu erfahren, und es erlaubt kaum Schlüsse darauf, wie sich die Zunahme der Briefwahl im Ergebnis auswirken könnte. Die nahe liegende Vermutung, dass die Möglichkeit zur Briefwahl vor allem von Stammwählern genutzt wird, weil ihre Entscheidung längerfristig feststeht, während Wechselwähler oder gar Untentschlossene eher dazu neigten, ihre Entscheidung erst am Wahltag zu treffen, verweist Wahlforscher Jürgen Hofrichter in den Bereich der Spekulation: „Darüber wissen wir so gut wie nichts.“

Immerhin so viel steht fest: „Die Briefwahl ist in Stadtstaaten deutlich verbreiteter als in Flächenstaaten“, erklärt Jürgen Hofrichter, Wahlforscher des Instituts Infratest dimap. Die relativ höchsten Anteile von Antragstellern für Wahlscheine wurden aus den Bezirken Steglitz-Zehlendorf mit 22,5 Prozent und Charlottenburg-Wilmersdorf mit 21,6 Prozent gemeldet, gefolgt von Tempelhof-Schöneberg mit 19,5 Prozent. Damit bestätigen sich die Erfahrungen aus früheren Wahlen: „In Gebieten mit höherem Einkommen und Bildungsniveau gibt es auch die meisten Briefwähler“, erklärt der stellvertretende Landeswahlleiter Schmollinger.

Der Unterscheid zwischen Briefwählern und Urnenwählern lässt sich am Wahlergebnis ablesen. Bei der Bundestagswahl 1998 profitierten CDU und Grüne von den Briefwählern. „Im Vergleich zeigt sich, dass die SPD fünf Prozent weniger Stimmen von Briefwählern erhielt als im Gesamtergebnis. Die PDS kam auf 1,7 Prozent weniger“, sagt Wahlforscher Jürgen Hofrichter. Gewinner waren die CDU, die bei den Briefwählern fünf Prozent höher lag, die Grünen mit einem Plus von 2,5 Prozent gegenüber dem Gesamtergebnis und die FDP, die 1,5 Prozent mehr erhielt.

Der Wahlforscher erwartet jedoch, dass die Abweichungen des Briefwahlvotums vom Gesamtwahlergebis künftig geringer ausfallen werden – wenn der Trend zur Briefwahl sich weiter verstärkt. „Bislang gibt es immer noch wenige Briefwähler. Wenn immer mehr dazukommen, wird sich vermutlich auch das Briefwahl-Ergebnis dem des Urnengangs annähern.“

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