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Berlin: Das Kulturerbe verwildert

Der Friedhof Weißensee ist das größte jüdische Gräberfeld Europas: 20 Millionen würde seineSanierungkosten. Wer soll das bezahlen? Die Unesco – vielleicht

Er wollte wissen, was mit seinem Vater passiert ist. Im Archiv des Jüdischen Friedhofs Weißensee fand der Mann aus England eine Spur. Sein Vater wurde während des Krieges hier beerdigt. Die Friedhofsverwalterin führte ihn zu der Stelle, an der sich nach Lageplan des Friedhofs das Grab befand. Als sie dort ankamen, standen sie vor einer großen Mulde. Im Krieg war hier eine englische Bombe niedergegangen, das Grab war zerstört. Der Mann fing an zu weinen. „Ich war selbst Pilot und habe über diesem Stadtteil Bomben abgeworfen“, sagte er.

Heute hat man selbst Mühe, die Mulde zu finden. Sträucher und Farne breiten sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee seit Jahrzehnten nahezu ungebremst aus, Efeu rankt über zerbrochene Grabsteine und umgestürzte Säulen, hohe alte Bäume säumen holprige Wege. Der Friedhof ist einer der romantischsten Orte Berlins. „Es ist ein bisschen zu romantisch hier“, sagt Albert Meyer, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, und setzt sich für den Spaziergang über den Friedhof eine Kippa auf. Sträucher und Bäume haben in den vergangenen Jahrzehnten so sehr Besitz von dem Areal ergriffen, dass man in weiten Teilen gar nicht mehr merkt, dass man sich auf einem Friedhof befindet. Außerdem seien die Wasserleitungen, zumeist über hundert Jahre alte Tonrohre, kaputt, sagt Meyer. Wenn es wie an diesem Tag regnet, sind viele Wege nur noch mit Gummistiefeln begehbar. Sie müssten neu gepflastert werden.

Zwanzig Millionen Euro würde die Sanierung kosten, haben die Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung errechnet. Denn der Friedhof ist so groß wie der Vatikan. Eigentümer der Anlage ist die Jüdische Gemeinde, sie aber hat so viel Geld nicht. Ebenso wenig das Land Berlin. Deshalb will Albert Meyer Ende August einen Antrag bei der Unesco stellen, damit die Organisation den Friedof als Weltkulturerbe anerkennt und Geld für die Sanierung zur Verfügung stellt. „Das ist nicht irgendein Friedhof“, sagt Meyer, „sondern der größte jüdische Friedhof Europas.“ Außerdem sei es der Friedhof des deutschen Judentums, das nicht mehr existiere. Die Nazis haben es weitgehend ausgerottet, nach dem Krieg sind kaum Juden nach Deutschland zurückgekehrt. Heute bestehen die jüdischen Gemeinden in Deutschland in der Mehrheit aus Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion. „Wir Alteingesessenen sind ein Auslaufmodell“, sagt Meyer. „Mit uns geht ein Stück deutscher Geschichte zu Ende.“ Wenn sich die Unesco für die Nekropole nicht interessiert, dann ja vielleicht der Bund, hofft Meyer.

Als am 21. September 1880 die erste Beerdigung in Weißensee stattfand, hatte die Jüdische Gemeinde in Berlin 65 000 Mitglieder, 1933 waren es 170 000. Heute sind es 12000. „Wären wir noch so viele wie vor dem Krieg, könnten wir den Friedhof auch alleine unterhalten. Dass wir nur noch so wenige sind, ist nicht unsere Schuld.“

Auch der Regierende Bürgermeister finde, dass der Friedhof Weißensee ein Kulturgut von mindestens nationalem Rang ist, sagt sein Sprecher Michael Donnermeyer. Klaus Wowereit und Meyer haben im Mai gemeinsam einen Brief an Kulturstaatsministerin Christina Weiss aufgesetzt, um anzuregen, dass der Bund den Friedhof ähnlich wie die Museumsinsel als Kulturgut übernehmen könnte. Einen Tag später verkündete Bundeskanzler Schröder, er wolle Neuwahlen. Der Brief wurde nicht abgeschickt. Nach der Wahl wollen Meyer und Wowereit einen neuen Anlauf nehmen.

Rund 115500 Gräber gibt es in Weißensee, die meisten wurden zwischen 1880 und 1945 angelegt. Sie spiegeln die Blütezeit des assimilierten deutschen Judentums wider. Bankier Siegmund Aschrott ließ sich 1903 für 500000 Reichsmark ein Mausoleum aus poliertem roten Granit mit einer innen vergoldeter Kuppel bauen. Die Verlegerfamilien Mosse und Samuel Fischer errichteten pompöse Grabmale, ebenso der Warenhausgründer Hermann Tietz und der Weinhändler Berthold Kempinski. Auch die Eltern von Ernst Lubitsch, Billy Wilder und Onkel und Tante von Albert Einstein sind hier begraben.

Viele Gräber hält nur noch Efeu zusammen, Ornamente sind abgefallen, Inschriften kaum noch zu entziffern. Verborgen unter Farnen findet man auch Grabsteine königlicher Hofpianisten – Familien, denen ihr Deutschtum so wichtig war, dass sie auf den Grabstein meißeln ließen: „Ein aufrechter deutscher Jude edelster Gesinnung“. Daneben ruhen junge Männer, die stolz für das Vaterland in den Ersten Weltkrieg gezogen sind.

Der Friedhof zeigt auch, was danach kam. Martha Joelsohn starb im August 1940. „Abgeholt und ermordet von der SS in der Nacht vor ihrer Ausreise nach China“, steht auf ihrem Grabstein. Auch hunderte Urnen aus Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern wurden hier bestattet und die Leichen von 1900 Berlinern, die sich aus Angst vor der bevorstehenden Deportation das Leben nahmen. Bis 1945 fanden hier offiziell, von Gestapo und SS erlaubt, jüdische Beerdigungen und Gottesdienste statt. Wer als Angehöriger dem Sarg folgte, lief freilich Gefahr, danach von der Gestapo verhaftet zu werden. Hunderte untergetauchte Juden schlichen nachts hierher, um sich in den Mausoleen zu verstecken.

Was aus ihnen geworden ist, treibt Angehörige bis heute um. Jedes Jahr landen hunderte Briefe aus aller Welt auf Regina Borgmanns Schreibtisch. Sie ist die stellvertretende Friedhofsleiterin und Herrin über das Archiv, das mit Geldern der Lottostiftung sortiert werden konnte. Ein älterer Mann aus Israel fand das Grab seiner Mutter, die er kaum kannte. In den vierziger Jahren hatte die Frau ihren kleinen Sohn in ein Berliner Waisenhaus gebracht, vermutlich, weil sie untertauchen musste. Von Berlin war der Junge in ein Waisenhaus in Palästina gekommen. Mehr wusste er über seine Familiengeschichte nicht. In Weißensee hat er einen Ort für seine Trauer gefunden. Auch Meyers Großeltern wurden Ende der zwanziger Jahre hier bestattet. Das Mausoleum neben ihren Gräbern ist leer. „Ein Freund meines Großvaters hat es für sich errichten lassen und ist dann in Auschwitz ermordet worden“, sagt Meyer.

Ein Stück weiter bahnen sich Arbeiter mit Sensen und Elektrosägen einen Weg durch das mehrere Meter hohe Dickicht. 27000 Euro koste die Rodung dieser Fläche, die vielleicht ein halbes Fußballfeld groß ist, sagt Regina Borgmann. Vor kurzem erreichte sie ein Schreiben aus den USA. Die Nachkommen von Bankier Aschrott baten, man möge das Familienmausoleum zerschlagen, den Granit an Steinmetze verkaufen und ihnen das Geld schicken. Sie bräuchten es dringend. „Eine absurde Idee“, sagt Meyer.

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