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Berlin: Das Leben nach dem großen Knall

Vor fünf Jahren starben sieben Menschen bei einer Gasexplosion in der Steglitzer Lepsiusstraße. Die Eigentümer bauten ein neues Haus, doch nur wenige blieben wohnen

Von Ingo Bach

und Till Schröder

4. August 1998, ein Dienstag. Es ist sechs Uhr morgens, eine Zeit, in der es in Berlin schon sehr geschäftig zugeht. Bei Bäckern und Imbissbuden gehen die Rollläden hoch, in den Wohnungen laufen die Kaffeemaschinen und Duschen. Ein neuer Arbeitstag beginnt. In der Steglitzer Lepsiusstraße Nummer 57 hat sich hingegen gerade erst eine 46-jährige Frau wieder ins Bett gelegt. Denn sie macht am frühen Morgen Feierabend. Die Zeitungsausträgerin war gegen fünf Uhr nach Hause gekommen, nachdem sie drei Stunden wie üblich ihre Runde in Steglitz gedreht und den Leuten ihre Morgenzeitungen in den Briefkasten geschoben hatte, darunter auch den Tagesspiegel. Um sechs schläft sie wieder. Eine Minute später ist sie tot.

Eine gewaltige Detonation reißt das vierstöckige Wohnhaus aus der Nachkriegszeit in Trümmer. Nachbarn werden später sagen, sie hätten das zischende Geräusch einer Gasexplosion gehört. Sieben Menschen sterben. Gerichtsmediziner, die die Leichen ein paar Tage nach dem Unglück obduzieren, werden die Angehörigen trösten: Sie waren sofort tot. Erschlagen von 2000 Tonnen Schutt. Unter ihnen ist ein 13-jähriger Junge, Sven T. In seiner Lunge entdecken die Ärzte Reste des ausgeströmten Gases. Merkwürdig auch, dass er Straßenkleidung trug, schon so früh. Die Schlussfolgerung der Polizei: Wahrscheinlich war es Sven, der im Keller einen Verschlussstopfen von der Gasleitung abschraubte, so dass eine explosive Mischung entstand. Sie ging schließlich hoch, als eine Mieterin das Licht anschaltete. Aber warum sollte jemand so etwas tun? Die Frage ist bis heute ebenso wenig beantwortet, wie es hundertprozentige Sicherheit gibt, dass wirklich der Junge an dem Unglück schuld ist.

Die Wunde in der Häuserfront der Lepsiusstraße blieb nicht lang offen. Schon vor zweieinhalb Jahren stand der Neubau, den elf Wohnungseigentümer des alten Hauses bauen ließen, unter anderem mit dem Geld, das die Versicherung zahlte. Zentralheizung, Tiefgarage, Spielplatz – am Neubau erinnert nichts an die Explosion vor fünf Jahren. Die Diskussion um eine Gedenktafel verlief im Sand. „Man sollte die alten Dinge ruhen lassen“, sagt eine Bewohnerin, die nicht genannt werden möchte.

Selbst in dem Neubau wohnen wollten nur wenige der damaligen Eigentümer. Die meisten haben ihre Koffer gepackt, haben ihre Wohnungen vermietet. Eine Familie kehrte zunächst zwar zurück, zog kurz darauf aber wieder aus, weil sie sich nicht mehr wohlfühlte. Bei den meisten Dagebliebenen sitzt der Schock noch immer so tief, dass sie nichts sagen wollen.

Weggezogen ist auch Michael K. Ihn haben die Retter als Einzigen der Verschütteten lebend aus den Häuserresten geholt. Ein kleiner Hohlraum rettete ihm das Leben, eine Chance, die alle anderen Opfer nicht hatten. Fünf Jahre vor dem Unglück hatte sich K. mit seiner Mutter zwei Wohnungen im Haus gekauft. Eine bewohnte er, die andere vermieteten sie. Der heute 38-Jährige wohnt jetzt ein paar Straßen weiter. Und auch um den fünften Jahrestag macht er einen großen Bogen. Gestern hat er Berlin für ein paar Tage verlassen – weit weg von der Lepsiusstraße.

Eine junge Frau blieb und spricht darüber, auch wenn sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie besaß damals im vierten Stock eine Wohnung, hatte Glück. Zwei Tage vor der Explosion war sie nach Kreta in die Ferien geflogen. Und ihre Mutter wollte ihr den Urlaub nicht verderben – und schwieg. „Ich bin gleich zur Unglücksstelle hingefahren“, sagt die Mutter heute.. „Ich fand aber nichts, das ich von den Habseligkeiten meiner Tochter retten konnte, also ließ ich sie drei Wochen Sonne genießen.“ Umso größer der Schock, als die Tochter heimkam. Sie wollte das, was einst ihre Wohnung war, nicht aus der Nähe sehen. „Ich hab’s mir nur im Fernsehen angeschaut“, sagt sie. „Alles war weg. Nur mein Sofa habe ich bei den Berichten auf dem Trümmerhaufen erkannt.“ Heute fühlt sie sich wohl in dem Neubau, in den bald auch ihre Mutter einziehen wird.

Die Erinnerung bleibt wach im Kiez. Ein Bewohner des Nachbarhauses rannte nach dem Knall barfuß auf die Straße und trat sich Glassplitter in beide Sohlen. Die Schmerzen spüre er immer noch, sagt er. Auch seine Frau hat die Explosion nicht vergessen: „Bei einem lauten Schlag zucke ich jedesmal zusammen.“

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