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Berlin: Das Modell 50 plus

Gesetzliche Krankenkassen zahlen künstliche Kniegelenke nur, wenn eine Klinik sie oft genug einsetzt. Die Regel ist neu – und umstritten. Doch einige Abteilungen müssen jetzt um ihre Zukunft bangen

Orthopäden mögen ihren Beruf auch deshalb, weil ihre Operationen einen Patienten schnell heilen können. Sie setzen ein künstliches Kniegelenk ein, und ein Mensch, der jahrelang schlimme Schmerzen litt, kann wenig später Dinge tun, die ihm Monate zuvor undenkbar erschienen. Ein schönes Erfolgserlebnis.

Tom Zinner wird künftig auf ein paar solcher Erlebnisse verzichten müssen. 15 Patienten hat der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung in der Caritas Klinik Maria Heimsuchung in Pankow im vergangenen Jahr künstliche Kniegelenke eingesetzt – das war zu wenig. Es hätten 50 sein müssen, das schreibt eine Mindestmengen-Regelung für „Knie-Totalendoprothesen“ (Knie-TEP) vor, wie künstliche Kniegelenke im Fachsprech heißen. Seit Januar gilt die Mindestmengen-Vorgabe für alle deutschen Krankenhäuser. Seither bezahlen die gesetzlichen Kassen die bis zu 10 000 Euro teure Operation nur noch, wenn sie in einer Klinik mit entsprechender Fallzahl vorgenommen wurde.

Die Regelung geht auf Fachleute von der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung (BQS) und deren Auftraggeber zurück: den Gemeinsamen Bundesausschuss von Kliniken, Ärzten und Krankenkassen. Der Grundgedanke dahinter ist simpel: Wer viel operiert, hat viel Erfahrung, also operiert er gut. Zwar gibt es in diesem Jahr eine Ausnahme für Häuser, die 2005 mindestens 40 künstliche Kniegelenke einsetzten und bestimmte BQS- Qualitätsvorgaben einhielten. Und Notfall-Operationen sind erlaubt. Dennoch müssen ein paar Berliner Kliniken bangen, die Vorgabe zu erfüllen.

Dabei ist diese heftig umstritten. So druckte das Deutsche Ärzteblatt in seiner Februar-Ausgabe einen Text, in dem die Autoren die „willkürliche ,politische’ Festlegung von Knie-TEP“ kritisieren. Argumente für diese Kritik lieferte eine Untersuchung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln, kurz: IQWIG. Das Institut wertete BQS-Daten aus den Jahren 2003 und 2004 aus, um zu sehen, wie die Zahl der Operationen mit feineren Qualitätskriterien zusammenhängt. Ergebnis: Erstens, je mehr Knie-Operationen eine Klinik pro Jahr durchführte, desto geringer war das Risiko, dass sich ein Patient eine Wundinfektion einhandelte. Und auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein operiertes Kniegelenk nach der Operation unbeweglich wird, sank mit der Anzahl der Operationen. Zunächst, jedenfalls. Doch ab 400 Eingriffen im Jahr stieg dieses Risiko plötzlich stark. Hier setzen die Kritiker an.

Es fällt auf, dass Beifall für die Einführung einer Mindestmenge als Qualitätsindiz aus großen Berliner Kliniken kommt, während kleine diese skeptisch sehen.

„Ich glaube, dass wir Mindestmengen brauchen“, sagt etwa Axel Ekkernkamp, Ärztlicher Direktor des Unfallkrankenhauses Berlin (UKB). Auch aus der Abteilung Qualitätsmanagement des Vivantes- Konzerns heißt es: „Die Vorgabe ist sinnvoll. Wer sie nicht erfüllt, darf die Leistung nicht mehr anbieten.“ Das gelte auch für eigene Standorte. Im Herbst vergangenen Jahres habe man einige auf den Prüfstand gestellt, weil nicht klar war, ob sie die geforderte Anzahl an Operationen würden nachweisen können. Sie haben es geschafft. „Ob das auch in Zukunft so ist, wird man sehen“, heißt es. Dagegen kritisiert Christian Müller, Chefarzt der Chirurgie im Sana Klinikum Lichtenberg, die Mindestmengen als „rein politisches Instrument, das den Markt bereinigen soll.“ Sprich: Die Regelung begünstige die Konzentration auf einige Zentren.

Nach Ansicht von Experten könnte es durchaus so kommen. Die Mindestmengen-Regelung werde vor allem kleinere oder mittlere Kliniken treffen, die ein breites medizinisches Spektrum anbieten – mit deshalb deutlich geringeren Fallzahlen als große Kliniken sie erreichen. „Dass man 50 Eingriffe im Jahr als Grenze bestimmt hat, ist doch sehr willkürlich“, kritisiert Müller. Dies ist das gewichtigste Argument der Kritiker: Anders als bei anderen Operationen gebe es bei den Knie-TEP keine belastbaren wissenschaftlichen Belege dafür, dass mit der Menge der Eingriffe in einer Klinik die Qualität steige. Das sagt auch UKB-Chef Ekkernkamp.

Die Diskussion geht nun dahin, Mindestmengen für Operateure festzulegen – statt für Abteilungen. Denn die bisherige Regel berücksichtigt nicht, ob ein einziger Operateur oder zehn Ärzte einer Klinik zusammen auf 50 Eingriffe kommen.

Ob die Modifikation kommt, ist unklar. Klinik-Träger, die mehrere Standorte in Berlin unterhalten, können sich derweil anders behelfen: Sie leihen Spitzen-Operateure eines ihrer Standorte mit vielen Operationen tageweise an eigene Häuser aus, die Schwierigkeiten mit der Mindestzahl bekommen könnten. Das erhöht deren Fallzahl. So hat die Schlossparkklinik in Charlottenburg im vergangenen Jahr die geforderte Fallzahl erreicht, die sie 2004 deutlich verfehlt hatte. Inzwischen gibt es dort ein Zentrum für derlei Eingriffe. Auch Vivantes erwägt, Operateure auszuleihen, „um die Versorgung in einigen kleineren Häusern weiter zu gewährleisten“, heißt es aus der Qualitätsbeurteilung.

Solche Möglichkeiten sieht Chefarzt Tom Zinner von der Caritas Klinik in Pankow für sein Haus nicht. Er wird künstliche Kniegelenke höchstens noch ausnahmsweise einsetzen, bei Privatpatienten etwa. Er bedauert das, aber das Problem sieht er woanders: „Ich kann nur hoffen, dass die Patienten nicht denken: Wenn die keine Knie-Operationen mehr machen dürfen, dann sind sie vielleicht schlecht – auch bei anderen Leistungen.“

Marc Neller

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