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Berlin: Das Paradies der Mietskasernen

Die Gartenstadt Atlantic wurde 1927 als Reform-Siedlung erbaut. Jetzt eröffnet sie neu – rundum saniert und als deutsch-türkisch-jüdisches Integrationsprojekt

SCHÖNER WOHNEN IN WEDDING: EIN HISTORISCHES VIERTEL WIRD AUFPOLIERT

Gertrud Teichert sitzt an ihrem Tischchen und schreibt. „An der Zingster- Ecke Behmstraße war ein wunderbares Feinkostgeschäft. Wir konnten in der Gartenstadt alles kaufen, es gab sehr viele Geschäfte und herrliche Schaufenster…“ Die alte Dame notiert ihre Erinnerungen an die Gartenstadt Atlantic. Gertrud Teichert ist die älteste Mieterin der 1927 am Bahnhof Gesundbrunnen in Berlin-Wedding erbauten „Gartenstadt“, einer Siedlung nach dem Vorbild der britischen „Garden Cities“. Am 22. November 1933 zog sie dort ein, mit 31 Jahren. Heute ist sie 101 Jahre alt. Aber vergessen hat die ehemalige Postbeamtin kaum etwas aus der Zeit, als die Gartenstadt noch jung war.

Fünf Jahre stand die Siedlung mit den hellen Fassaden und den begrünten Innenhöfen zwischen Heidebrinker-, Behm- und Bellermannstraße, als Frau Teichert einzog. Wenn sie heute aus dem Fenster schaut, sieht sie ihre Gartenstadt wieder so schön wie am ersten Tag. Der Sockel des Hauses gegenüber ist brombeersahnerot gestrichen, die Fassade darüber leuchtet in dem Hellgrün, das Rudolf Fränkel, der Architekt der Anlage, einst für die Gartenstadt aussuchte.

Das Rot der Eingangstüren signalisiert: Vorsicht, frisch gestrichen! Stimmt, hier ist alles frisch gestrichen, von den weißen Fensterrahmen bis zu den gelben Wänden der Loggien. Die unter Denkmalschutz stehende Gartenstadt Atlantic wird aufwändig saniert – fertig ist jetzt der erste Bauabschnitt mit 25 von 50 Häusern, der in dieser Woche feierlich eröffnet wird.

„Der soziale Gedanke stand am Anfang“, erläutert die Architektin der Sanierung, Benita Braun-Feldweg, das Projekt der Gartenstadt Atlantic der Zwanzigerjahre. Für weniger begüterte Menschen habe man guten Wohnraum zu bezahlbaren Mieten schaffen wollen. Soziales und gesundes Wohnen mitten in der Stadt, „mit Licht, Luft und Sonne für alle Wohnungen“. Braun-Feldweg ist sichtlich begeistert von der Reformidee der Atlantic- Gründer und vom Werk ihres Kollegen Rudolf Fränkel. Der deutsch-jüdische Architekt plante die Siedlung als eines der Wohnprojekte, die dem Weddinger Wohnungselend etwas Neues entgegensetzen sollten.

„Es gab seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder Versuche im Wedding, die Not zu lindern“, sagt die Leiterin des bezirklichen Heimatmuseums, Gabriele Lange. Von der 1903 entstandenen Siedlung „Versöhnungs-Privatstraße“ des Vaterländischen Bauvereins an der Bernauer Straße bis zu den 1926/27 gebauten Wohnkuben Mies van der Rohes an der Afrikanischen Straße: „Die Menschen empfanden ihre neuen Wohnungen als Paradies“, sagt Gabriele Lange.

Die Gartenstadt AG war bis 1939 im Besitz des deutsch-jüdischen Verlegers Karl Wolffsohn und wurde dann „arisiert“. Nach dem Krieg erkämpften Wolffsohn und sein Sohn Max die Rückgabe der Aktien. Die heutigen Besitzer betreiben die Gartenstadt als Non-Profit-Unternehmen – und sind angetreten, sie zu einem „Projekt deutsch-türkisch-jüdischer Partnerschaft“ zu machen.

Äußerlich hat sich die Gartenstadt zu einem echten Lichtblick im Gesundbrunnen- Kiez gemausert. Mit den Jahren waren die Fassaden schwarz geworden, die Treppenhäuser heruntergekommen und etliche der Ofenheizungswohnungen standen leer. Im sanierten Teil bekamen die Wohnungen nun vergrößerte Bäder – weiß gekachelt und mit Handtuchheizungen – und Zentralheizung; in den Treppenhäusern rote Geländer, grün-gelbe oder rosa Wandfarbe und farbiges Linoleum.

„Alles ist so schön frisch, ich hab’ so ein Gefühl, das ist meine eigene Wohnung.“ Das sagt Sevim Gül, die mit ihrem Mann und vier Kindern in der Gartenstadt wohnt. Strahlend sitzt sie in ihrem neu eingerichteten Wohnzimmer. Die Güls gehören zu den zahlreichen türkischen Familien in der Gartenstadt. Daneben gibt es alteingesessene deutsche Mieter, studentische Wohngemeinschaften, Künstler, die günstige Ateliers mieten – und einige „Neue“ in den sanierten Wohnungen, die sich vom schlechten Image des Wedding nicht abschrecken lassen. „Pragmatische Leute sagen: Es ist verkehrsgünstig, es sind tolle Wohnungen, es gibt prima Einkaufsmöglichkeiten im Gesundbrunnen Center, und ausgehen kann man drüben in Prenzlauer Berg“, wirbt Schahrzad Derakhshan vom Gartenstadt-Atlantic-Team. Vor allem die neuen Loft- und Maisonette-Wohnungen sind noch nicht restlos vermietet.

Gertrud Teichert wohnt im noch unsanierten Teil der Anlage – und ist froh darüber. Ein Umzug wäre ihr zu anstrengend, sagt die 101-Jährige. Aber die Wiederbelebung der alten Gartenstadt verfolgt sie mit großem Interesse. „Gertrud, zieh’ da hin, da ist doch die Lichtburg“, rieten die Kollegen der jungen, allein stehenden Postbeamtin aus Prenzlauer Berg vor siebzig Jahren zu. Die Lichtburg! War die Gartenstadt Atlantic eine Oase in der Weddinger Steinwüste, so war die Lichtburg ihr Leuchtturm: Ein Kino mit 2000 Plätzen, Restaurants und Tanzsälen als Amüsiertempel für die Weddinger Arbeiter. Weithin sichtbar war die Lichtburg durch ihren 40 Meter hohen Turm, aus dessen Spitze nachts zwei Lichtstrahlen über die Stadt gingen.

Die Gartenstadt AG erinnert mit einer Lichtskulptur an das legendäre Kino, das 1970 abgerissen wurde. „Lichtburgforum“ heißt der Veranstaltungsraum der Siedlung an der Behm- Ecke Zingster Straße. Dort soll von öffentlichen Talkrunden, Lesungen, E- und U-Musik, Ausstellungen bis hin zu Deutschkursen für Ausländer und Kindertheater all jenes stattfinden, was aus den Mietern der Gartenstadt gute Nachbarn machen soll. Mit Hilfe der „Lichtburg Stiftung“ initiieren die deutsch-jüdischen Besitzer ihr „Projekt deutsch-türkisch-jüdischer Partnerschaft“, loben Integrationspreise für die Mieter und Künstler-Wettbewerbe aus. Die Gartenstadt will wahrhaft paradiesische Zustände schaffen – auf dem harten Boden der Weddinger Realitäten.

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