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Berlin: Das satte Grün der Hungerblume

Wer genau hinsieht, kann in Berlins Straßen unbekannte Pflanzen und Tiere entdecken. Führungen und Karten helfen dabei

Wie schön die kobaltblauen Traubenhyazinthen zwischen den geparkten Autos leuchten! Die gelben Osterglocken dazwischen sind nach dem milden Winter leider schon vorfristig verschrumpelt, aber dafür blüht der Schlehenbusch zwei Meter weiter umso schöner. „Man kann sich an jeder Ecke auf den Boden schmeißen und freuen“, sagt Ulrike Willerding, geht ein paar Schritte weiter, schmeißt sich hin und freut sich: Diesmal ist es die Hungerblume, die es der Biologin angetan hat. Das Pflänzchen sieht so aus, wie es heißt: hauchzart, mit stecknadelkopfkleinen weißen Blüten am Stängelchen, alles in allem kaum fünf Zentimeter hoch. Und das Klebkraut in der Pflasterritze daneben … Ulrike Willerding schmeißt sich schon wieder hin und freut sich.

Die von ihr gefeierten Gewächse stehen in der Wiclefstraße, mitten in Moabit. Keine klassische Ausflugsgegend für Naturfreunde. Aber allemal gut genug für einen Lehrpfad, den es so in Berlin wohl nicht noch einmal gibt. Was als Idee einer Anwohnerin begann, wurde zu einer Initiative vieler Kiezbewohner, die jetzt vom Naturschutzverein BUND koordiniert, vom Bezirksamt unterstützt sowie von Stadtentwicklungsverwaltung und EU gefördert wird. 4,7 Kilometer ist die Runde lang, die zwischen Spree und S-Bahn-Nordring verläuft. Theoretisch wäre das in einer Stunde zu schaffen. Praktisch nimmt man sich besser drei.

Das Niederliegende Mastkraut zum Beispiel würde man bei normalem Wandertempo kaum bemerken – oder bestenfalls mit ordinärem Gras verwechseln. Das sternförmige Kräutlein gedeiht in den Ritzen des Straßenpflasters und ist so flach, dass es dank der leicht gewölbten Pflastersteine ringsherum nicht plattgefahren werden kann. Und wenn man sich einmal zu ihm hingehockt hat, entdeckt man auf einer Bauminsel daneben auch noch Wegerich, Strahlenlose Kamille, winzige Brennnesseln und Plattholmrispengras. Alles hat sich schon an den ersten warmen Tagen hochgekämpft. Die Biologin weiß, warum: „Das macht im Frühjahr – zack! – diesen Teppich; das ist seine Strategie, weil es ihm unter den dann grünen Bäumen im Sommer zu dunkel wird“, sagt Ulrike Willerding, entdeckt über sich eine von vier allein in dieser Straße vertretenen Ahornarten und vergisst beinahe das Luftholen, weil so viel zu erzählen ist. Und nebenan im Park, wo Efeu an einer Ruine rankt und Vögeln nicht nur Heimat, sondern mit seinen Früchten auch Futter bietet, während nebenan der lila blühende Lärchensporn die ersten Hummeln ernährt, da ihn das Grünflächenamt glücklicherweise nicht gleich niedergemäht hat – herrje, es ist so viel Natur hier im Moabiter Kiez, man weiß gar nicht, wo man anfangen und wo man weitermachen soll.

Genau genommen ist der Naturlehrpfad nur Anhängsel des ebenso großen wie unbekannten Bürgerprojekts „20 Grüne Hauptwege“. Initiatorin Eva Epple erklärt es so: „Als ich mit meinen damals kleinen Kindern spazieren ging, dachte ich oft: ,Wäre schön, wenn es hier weiterginge.‘“ Also griff sie die teils schon seit West-Berliner Zeiten in diversen Verwaltungsschubladen liegenden Pläne auf und gewann über den Fußgängerverein FUSS mehr als 100 „Flaneure“, die viele Wege abliefen und beschrieben. Die ebenfalls beteiligte Stadtentwicklungsverwaltung unterstützt das Vorhaben, das noch längst nicht fertig ist: Das 550 Kilometer lange Netz bestehe „etwa zur Hälfte aus Lücken“, heißt es beim Senat. „Für diese Lücken haben die Flaneure Umwege gefunden.“

Was für Radler schon relativ weit gediehen ist, entsteht nun also auch für Fußgänger. Nur bleiben die meisten Routen unbeschildert, weil für Wegweiser weder Geld noch Wille vorhanden ist. Immerhin sind manche Routen inzwischen auf Stadtplänen vermerkt und alle detailliert im Internet zu finden (siehe Kasten). In der Verwaltung träumt man schon davon, dass man gar keine Wegweiser mehr braucht, weil die Wandersleute die Beschreibungen auf ihre Handys mit Satellitennavigation gefunkt bekommen. Aber bis das funktioniert, werden wohl noch viele Hungerblumen er- und verblühen. Und wo man die findet, ist ja nun geklärt.

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