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Berlin: Das Süd-Nord-Gefälle

Die Mauer ist weg, aber die Swinemünder Straße bleibt geteilt: Von Eckkneipen und schicken Praxen

Verliefe noch die Mauer durch die Swinemünder Straße, die Wirtin Gabriele Witthöft wäre die Protagonistin West dieser Geschichte und der Arzt Andreas Ullrich der Protagonist Ost. Diese Kategorien taugen nicht mehr: Trotzdem teilt eine unsichtbare Linie die Swinemünder Straße: In einen nördlichen Teil, ehemals Wedding – also Westen –, mit Witthöfts Kneipe, und den südlichen mit Ullrichs Praxis, einst Mitte und Teil der Hauptstadt der DDR. Zwischen Kneipe und Praxis liegen kaum 150 Meter und doch Welten. Ein Wohlstandsgefälle. Witthöft und Ullrich sind so etwas wie die Seismografen. Die Menschen, die täglich bei ihnen ein- und ausgehen, machen sie dazu. Der RBB-Journalist Andreas Ulrich hat über die Bewohner der Straße ein Buch geschrieben, das seit gestern zu haben ist.

Die Swinemünder Straße: zwei Kilometer zwischen dem S-Bahnhof Gesundbrunnen und der Zionskirche. Man kann nicht behaupten, dass zwischen diesen Polen eine Amüsiermeile läge. Der nördliche Teil mit seinen 60er-Jahre-Häusern aber ist eindeutig der glanzlosere. Es gibt dort eine heruntergekommene Bibliothek, ein italienisches Lokal, zwei typische Bierkneipen: „Zur Linde“ und die „Rote Klause“ und viele Arbeitslose.

In der „Linde“, dem Erdgeschoss eines verklinkerten Hochhauses, steht eine schlanke Frau mit schulterlangem blonden Haar hinter einem dunklen Holztresen und zapft ein nulldreier Pils: Gabriele Witthöft, 41 Jahre alt. Ihre Gäste nennen sie nur „die Gaby“. Deswegen und weil eine Hertha-BSC-Fahne und ein Fanschal an den Wänden hängen, ahnt man, dass hierher nur Stammgäste kommen und man Fremde sehr selten antrifft. Man kann jederzeit anschreiben lassen. Aus den Lautsprechern rieseln Schlager.

Gaby Witthöft sagt, sie habe hier eine Art Familie gefunden. Sie wollte neu anfangen vor zwei Jahren, als sie den Laden übernahm. Sie hatte sich von den Vätern ihrer Kinder getrennt; in etlichen Fabriken gearbeitet, und hinter den Tresen einiger Kneipen gestanden. Ihr eigener Chef war sie nie. Sie war Gast in der „Linde“. Als der Wirt sagte, er wolle verkaufen, da hat sie nicht lange überlegt.

Alles wäre anders gekommen, hätte sie sich nicht vor zehn Jahren auf einem Brandenburger Campingplatz verliebt. Sie zog von Kiel nach Berlin, die Mauerzeit kennt sie nur aus Erzählungen. Sie sagt: „Ost und West, das zählt doch längst nicht mehr.“ Was zählt, ist die neue Familie.

Familie und familiär sind Worte, die auch Andreas Ullrich gerne benutzt, wenn er über seine Praxis spricht. Die liegt dort, wo die Swinemünder Straße mal DDR war: Ecke Arkonaplatz.

Ullrich, 47, jünger aussehend, Dreitagebart, betreut seine Patienten „ganzheitlich“, wie er sagt. Das heißt er hört sich auch ihre Sorgen und Probleme an. Die Zimmer seiner Praxis sind hell gestrichen und einige mit ausgesuchten Möbelstücken ausgestattet. Die Praxis ist schick, aber nicht zu schick. Sie steht so sehr für den ehemaligen Ost-Berliner Teil der Swinemünder Straße wie Gaby Witthöfts „Linde“ für den Teil, der zur ehemaligen West-Stadt gehörte. Die Nachbarschaft der Praxis besteht aus Gründerzeithäusern, fast ausnahmslos hübsch saniert, kein Szenelokal stört den nahezu dörflichen Charakter, von dem diese Gegend einen Rest aus der DDR-Zeit hinübergerettet hat. Äußerlich jedenfalls. Doch ist die Zeit längst vorbei, in der hier jeder jeden kannte, und die Enkel die Wohnungen ihrer verstorbenen Großeltern übernahmen. Zu Ullrichs Patienten gehören Bundestagsmitarbeiter, Architekten, Besserverdiener, die sich eine Kaltmiete von bis zu elf Euro pro Quadratmeter leisten können. Viele sind aus Westdeutschland zugezogen.

Fränki zum Beispiel, Vornekurz-Hintenlang-Frisur, Parkettleger, hat deswegen die Seite gewechselt. Er wohnt zwar noch am Arkonaplatz, aber seine Stammkneipe dort hat er aufgegeben, er hat das hochgestochene Gequatsche nicht mehr ausgehalten. War nicht mehr seine Welt. Er geht jetzt zu Gaby, dort passt er besser hin, findet er. Dass er Fan von Hansa Rostock ist, einem Ostklub, statt von Hertha BSC? Darüber lässt sich diskutieren, bei einem bezahlbaren Bier. Bei Gaby kostet ein Nulldreier einen Euro vierzig.

Andreas Ulrich: Zwei Kilometer Deutschland, Eulenspiegel-Verlag, 192 Seiten, 16,90 Euro

Marc Neller

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