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© Kitty Kleist-Heinrich

Berlin: Das Tor zur Freiheit wird geschlossen

Das Notaufnahmelager Marienfelde ist ab heute Geschichte. Für mehr als eine Million Flüchtlinge war es die erste Station im Westen

Ihr größter Wunsch fürs neue Jahr? „Wir wollen alle gesund bleiben und in Berlin zusammenwohnen“, hoffen die Eheleute Nikolai und Ludmilla Morgun und ihre Tochter Natalie aus Moldawien. Ihre ältere Tochter wohnt seit sieben Jahren in der Stadt. Sie selbst sind vor zwei Wochen angekommen, leben in einer Zweizimmerwohnung der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler. Als „Notaufnahmelager Marienfelde“ wurde es zum legendären „Tor zur Freiheit“. Heute schließt sich dieses Tor, heute ist offiziell Aufnahmeschluss.

Mehr als 1,35 Millionen Flüchtlinge aus Ost-Berlin und der DDR wurden von 1953 bis nach der Wende 1989 als erste Etappe der Freiheit durch dieses Lager geschleust; später kamen noch rund 50 000 Spätaussiedler und Zuwanderer. Die Morguns gehören zu den letzten deutschstämmigen Aussiedlern, die an der Marienfelder Allee den ersten Kontakt mit ihrer neuen Heimat bekommen, bei Behördengängen Hilfe erhalten, auch die Vermittlung von Sprachkursen. Jekaterina Muradow spricht fast perfekt Deutsch. Seit einer Woche ist sie hier, studierte in St. Petersburg einige Semester Architektur. Sie hofft, dass dies in Berlin anerkannt wird. Ihr Berufswunsch: Restauratorin. Die Familie wohnt schon in Berlin.

Rund 60 Personen leben noch hier, Platz wäre in der kleinen Siedlung für mehr als 700 Menschen. Die wenigen Bewohner werden in den nächsten Tagen und Wochen nach und nach ausziehen. In eigene Wohnungen oder in Heimplätze außerhalb des Geländes. Ein großes Heim wie in Marienfelde wird nicht mehr gebraucht, weil der Strom der Aussiedler nachgelassen hat. Im Jahr kommen kaum über 200 Personen. Im neuen Jahr wird „abgewickelt“, Ende 2009 rechnet das Landesamt für Gesundheit und Soziales mit einer Entscheidung des Bundes über die weitere Zunft des Areals. Die Häuser sind denkmalgeschützt, die landeseigene Ausstellung „Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde“ im Haupthaus bleibt erhalten.

Nelli Stanko ist Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Aussiedler und jüdische Zuwanderer. Sie kam 1992 selbst mit ihrer Familie aus Nordkasachstan nach Berlin – und nach Marienfelde. Russland, Kasachstan, die Ukraine, Kirgisistan – das sind in den letzten Jahren die Heimatländer der meisten Gäste gewesen. Wer kommt, ist zuversichtlich, „aber es gibt auch viele Fragezeichen, eher Skepsis“. Akademiker wissen, dass die Berufschancen nicht allzu rosig sind.

Als Nelli Stanko nach Marienfelde kam, war die große Gemeinschaftsküche schon längst nicht mehr in Betrieb. Die wurde einst gebraucht, als das Notaufnahmelager durch ostdeutsche Flüchtlinge überfüllt war. Gerade vor dem Mauerbau, als täglich Tausende kamen. Marienfelde war für die meisten die erste Station im Westen, vor der neuen Heimat in West-Berlin oder vor dem Weiterflug nach Westdeutschland. Die kleinen Bäder reichten nicht, in die Küchen wurden Doppelstockbetten gestellt. Vier Quadratmeter Wohnfläche pro Person – das bleib ein frommer Wunsch. Ausstellungsleiterin Bettina Effner hat dokumentiert, welche bürokratische Hürden einst im Notaufnahmeverfahren zu bewältigen waren. Der ärztliche Dienst, die alliierten Sicherheitsstellen, die Zuständigkeitsprüfung, der fürsorgerische Dienst, die polizeiliche Anmeldung, Vorprüfungen A und B, Terminstelle und Schirmbildstelle. „Was ist ihr Fluchtmotiv?“, wurde in den fünfziger Jahren gefragt, und wer seine Flucht nicht politisch, nur wirtschaftlich begründete, hatte schlechte Chancen, als Flüchtling anerkannt zu werden. Es gab 160 verschiedene Stempel. Firmen wie „Zippa-Klinker“ veröffentlichten hier Stellenangebote. Als die 26 dreistöckigen Wohnblocks zwischen 1953 und 1955 gebaut wurden, mit Grünflächen und Spielplätzen, waren Senat und Bund noch zuversichtlich, dass die Siedlung bald zu ganz normalen Wohnhäusern werden könnte, „zur Heimstätte freier und glücklicher Menschen“, wie es in der Grundsteinurkunde hieß. Die Menschen, die hier ankamen, gerieten gerade in den Jahren vorm Mauerbau für kurze Zeit ins Mahlwerk der Behörden, so dass es schon interne Anweisungen gab, die Leute nicht zu sehr mit Bürokratie zu quälen, damit diese ihre Flucht nicht bereuten. Die Morguns aus Moldawien bereuen nichts. Sie freuen sich auf die Aussicht, mit ihrer Familie vereint zu sein. Die Tochter träumt von einem Studienplatz, „vielleicht Tiermedizin“. Alle drei werden Sprachkurse belegen – und bald ausziehen. Sie stehen am Anfang ihres neuen Lebens – und am Ende einer legendären Heimgeschichte in Berlin.

Christian van Lessen

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