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Berlin: Das Turnfest ist vorbei

Am Denkmal für die ermordeten Juden Europas kehrt Ruhe ein. Ehrfürchtige und Unbekümmerte kommen besser miteinander aus

Die Jungen mögen fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein – auf den Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden überkommt sie kindliche Spielfreude. Nachdem die beiden aber fünf, sechs, sieben Stelen übersprungen haben, erreicht sie der Ordnungsruf einer jungen Frau. „Runter!“, ruft sie bloß. Schon stört nichts mehr die Ästhetik der Stelen und die Besucherordnung.

Fast nichts. Wer in diesen Tagen die schmalen Gänge durchmisst und die Ordnung der grauen Betonstelen auf sich wirken lässt, stößt laufend auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die Verstecken miteinander spielen. Zwei Kulturen nutzen die Quader auf je eigene Weise: Die stillen Denkmalsbegeher und Entdecker bewegen sich wie Besucher einer großen alten Kirche, ehrfürchtig, schweigsam respektvoll. Allenfalls tauscht man einige Bemerkungen über Sinn und Zweck und Erfinder des Stelenfeldes aus. Die wenigstens ärgern oder empören sich über die Angehörigen der anderen Kultur der Spielfreudigen, deren Rufe wie in einem Labyrinth zwischen den Stelen hallen.

Noch immer warten Gruppen, um in den Ort der Information vorgelassen zu werden. Zwei Sicherheitskontrollen muss durchlaufen, wer im – provisorischen – Container im Eingangsbereich Mantel oder Gepäck lassen will. Erst am Ende des Jahres, so Uwe Neumärker von der „Stiftung Denkmal“, werde darüber entschieden, ob die provisorische Garderobe dauerhaft bleibt oder der Andrang nachgelassen habe. Längst ist das Denkmal nicht mehr so überlaufen wie am Wochenende nach seiner Eröffnung Mitte Mai. Vielleicht hat die Diskussion über den Umgang mit dem Denkmal viele Besucher daran erinnert hat, dass dem Ort Stille und Ernst ganz gut stehen. Mag auch sein, dass gerade die Turner, die Mitte Mai riegenmäßig auf und in dem Mal unterwegs waren, angesichts der Höhen- und Breitenabstände zwischen den Stelen ihre Bewegungsfreude nicht mehr kontrollieren konnten. Jedenfalls kommen inzwischen die im Mahnmal Spielenden und die Ernsten miteinander aus.

Zwei Männer, beide 25, sitzen auf einer Stele. Beklemmende Wirkung habe der Ort nicht auf sie, sagen beide, Informatiker der eine, Geophysiker der andere. Der Informatiker sagt, Beklemmung habe er vielmehr im Jüdischen Museum empfunden. Dieser Ort hier sei ein „Ort des Lebens“. Das habe der Architekt gewollt: „Die Leute sollen etwas daraus machen – jetzt tun sie es.“ Davon abgesehen, mache man in seiner Generation mehr kaputt, als manche ahnten, wenn man dauernd die Moralkeule schwinge: Die 25-Jährigen hätten nun mal nichts mit dem Holocaust zu tun.

Ein Mann aus Düsseldorf, der mit einer Gruppe von Teenagern unterwegs ist, spielt mit ihnen Verstecken. Er habe den 17-Jährigen gesagt, worum es sich bei dem Denkmal handele, sagt er. Doch es seien lernbehinderte Jugendliche. Sie hätten weder Sinn für ein Ereignis, das 60 Jahre zurückliege. Noch würden sie begreifen, dass das Mal an sechs Millionen Ermordete erinnern solle. „Der abstrakte Charakter eines Mahnmals erreicht sie nicht.“ Er selbst, sagt der Erzieher, halte viel von der „Offenheit“ des Ortes.

Daraus ergibt sich für viele auch eine Offenheit des Umgangs mit den Stelen. Auf einem halbhohen Quader hat sich eine niederländische Touristin hingelegt. Ihr Begleiter sitzt daneben. Während sie den Stadtplan studiert und die müden Beine entlastet, grübelt er über die Sprache der Stelen. So genau habe er sich nicht damit beschäftigt, sagt er. Doch vielleicht stünden ja die kleinen und die großen Stelen für die Unterschiedlichkeit der Opfer der Nazis? „Und wo“, fragt seine Begleiterin, „ist der Checkpoint Charlie?“

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