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das-tut-man-nicht.de: Wer hat schon beim Gassi gehen immer eine Tüte dabei?

Da regt sich einer über den Hundehaufen vor seinem Haus auf und schnippt im nächsten Augenblick seine Kippe auf den Spielplatz. Sind die Empörten scheinheilig, weil sie sich selbst nicht besser verhalten?

Hier in Berlin regen sich alle darüber auf, dass „Bürger“ den öffentlichen Raum verschmutzen, sich angeblich schlecht und unpassend kleiden, oder sich schlecht benehmen. Ich bin einer dieser „Bürger“, schmeiße gelegentlich eine Zigarettenkippe weg, habe nicht immer eine Plastiktüte dabei, wenn ich mit dem Hund gehe. Ich finde die Empörung total scheinheilig: Jeder macht das, auch diejenigen, die sich empören. Neulich habe ich zum Beispiel gesehen, wie ein stadtbekannter Moralist sich ohne zu bezahlen in ein Konzert geschmuggelt hat. Es würden alle besser leben, wenn sie toleranter wären. Tut man das?

Lieber Frager, wie auch Sie hatte ich das Glück, einige Jahre meines Lebens in Berlin leben zu dürfen. Und dort habe ich an der Bushaltestelle ein ganz wichtiges Prinzip am eigenen Leibe erfahren, das ich darum das „Omnibusprinzip“ nenne, welches da lautet: „Ick bin drin, jetzt is voll.“

Das Problem damit ist, dass durch deren Anwendung für viele der Bus oder der Zug dann immer öfter abgefahren ist. Gleichzeitig gehörte ich auch zu denen, die sich freuen, wenn sie es gerade noch in einen vollen Bus geschafft haben. Es ist also allzu menschlich wie beklagenswert, dass wir uns zuweilen gern selbst der Nächste sind. Das mag man wie Sie bedauern, aber letztlich ist das eine Sachverhaltsbeschreibung und noch keine ethische Wertung.

Die folgt aber dann bei Ihnen auf dem Fuße, wenn ich Worte wie „scheinheilig“, „Empörung“ oder „stadtbekannter Moralist“ lese. Sehr interessant finde ich Ihre ganz am Ende formulierte Lösung, denn die halte ich mit Blick auf den beschriebenen Sachverhalt in der Tat für problematisch: Denn Sie beschreiben erst, was wir alle an kleineren oder größeren Sünden oder Schweinereien (keine Plastiktüten beim Hund) tagtäglich begehen, um dann aber zu empfehlen, im Umgang damit einfach „toleranter“, großzügiger zu sein.

Nun: Derlei Fehlverhalten würde ich mir auch selbst zuschreiben, dann aber doch nicht empfehlen, in meinem Umgang damit toleranter zu sein. Ich glaube nämlich, Sie verwechseln Toleranz mit Indifferenz, mit Gleich-Gültigkeit. Das aber bringt uns in eine echte Schieflage: Denn dann kommt am Ende niemand mehr in den Bus, jeder tritt in den Haufen und wir alle schmuggeln uns ins Theater. Das wollen weder Sie noch ich. Toleranz kommt von tolerare, was „ertragen“, „erdulden“ meint. Wenn Sie der Hundehaufen oder all die täglichen kleineren und größeren Ungerechtigkeiten nicht mehr stören und Sie argumentieren: „Cosi fan tutte“, so machen es doch alle, dann werden Sie sich bald vor Hundehaufen nicht mehr retten können. Trotzdem mag ich Ihre Ehrlichkeit. Dennoch: Das tut man nicht. Das kann man tun.

Zur Person

Nils Ole Oermann ist einer der jüngsten - und schon bekanntesten - Ethikexperten in Deutschland. Er ist Vizepräsident und Professor für Nachhaltigkeitsethik an der Leuphana Universität Lüneburg.

Das Fachgebiet des evangelischen Pastors an der Berliner Kreuzkirchengemeinde und Direktors des "Program on Religion, Politics and Economics" an der Humboldt-Universität ist die soziale Marktwirtschaft. Der langjährige Mitarbeiter von Ex-Bundespräsident Horst Köhler und Berater des früheren Bundesinnenministers und heutigen Finanzministers Wolfgang Schäuble hat das Buch "Anständig Geld verdienen" geschrieben.

(Quelle: das-tut-man-nicht.de)

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