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Berlin: Das wunderbare Wartezimmer

Theatertruppe mit Grips: „Staatspoperette“ wirft einen Blick auf die Menschen der Stadt

Ein Wartesaal. Kaltes Licht, Plastikstühle mit Stahlgestell. Ein paar Menschen sitzen, warten, starren sich auf die Fingernägel, blättern gelangweilt in der Zeitung, scharren nervös mit den Füßen. Dann erscheint mit lautem Klacken eine neue Nummer auf der Anzeige, alle zucken zusammen, eine Tasche knallt auf den Boden. Doch die Nummer hat nichts zu bedeuten, keiner geht irgendwo hin – was ist das überhaupt für ein Amt?

Es ist das Amt, das Eva Blum und Matthias Witting sich für ihr Stück „’n Blick in der Stadt“ ausgedacht haben. Der erste Eindruck trügt: Hier wird kein Soziodrama über die Einsamkeit des modernen Menschen im Ämterdschungel ausgebreitet – jedenfalls nicht direkt. Denn plötzlich, die ersten Blickkontakte zwischen den Wartenden sind aufgenommen, hebt Eva Blum, die auch mitspielt, zu Klavierbegleitung zu singen an, einen echten Heuler aus der Blütezeit des deutschen Schlagers: „Mister Paul McCartney“ von Marianne Rosenberg. Nicht zufällig steht diese Nummer an dieser Stelle, denn später werden die Charaktere aller acht Rollen des Stücks über die Musik entwickelt.

Dies ist, möglicherweise, das Debüt einer festen Theatergruppe. Einen Namen hat sie schon: „Staatspoperette“. Der Ort der Premiere am 26.Dezember, das Grips-Theater, ist nicht zufällig gewählt, denn viele Mitglieder haben eine Grips-Vergangenheit: Claudia Balko, Falk Berghofer, Eva Blum, Christian Giese und Michaela Hanser, außerdem der Autor und Pianist Matthias Witting, der unzählige Auftritte als Theatermusiker, beispielsweise bei der „Linie 1“ hinter sich hat. Hinzu kommen Petra Marie Cammin, langjähriges Mitglied des Berliner Ensembles, Claudius Freyer und die Münchener Tänzerin Bettina Theil. Denn getanzt wird auch, und zwar unter höchst professioneller Aufsicht: Mit Beginn der Gesamtproben vor drei Wochen ist die englische Choreographin Vivienne Newport hinzugekommen, die lange mit Pina Bausch gearbeitet hat.

Die Wartenummern klacken ins Leere, die Tasche fällt auf den Boden, die Charaktere werden entblättert. Keine Dialoge, nur Körpersprache, Gesang mit Klavierbegleitung, ein paar handgemachte Perkussionseffekte. Der frühpensionierte Beamte, die frustrierte Mutter, der umschwärmte Fitness-Fan, der die interessierten Frauen dennoch enttäuschen muss, weil Frauen ihn kalt lassen. Die kühle Society-Lady mit romantischen Sehnsüchten, die soeben Verlassene, der entwurzelte Ex-Hausbesetzer, die harmoniesüchtige Mütterliche, die keinen Streit ertragen kann. Manchmal singen sie ihre Lieder ganz ernst im Sinne des Originals, manchmal trieft die Ironie aus allen Zeilen: Petra Marie Cammin beispielsweise erhöht treuherzig-tutig den Tote-Hosen-Kracher „Steh auf, wenn du am Boden liegst“ – und richtet wenig später die „Sieben Brücken“ durch ähnliche Mittel komplett zugrunde.

Verblüffend ist vor allem die Affinität Christian Gieses zu Rio Reiser und dessen „Junimond“ , den er, wie man heute wohl sagen würde, eins zu eins über die Rampe bringt. Udo Lindenberg und Ideal, Wencke Myhres Gummiboot und das Hasslied der toten Hosen auf den FC Bayern, Bettina Wegners „Kleine Hände“ und die Prinzen, die so gern Millionär wären – auf wunderliche Weise fügen sich die disparaten musikalischen Puzzleteile ineinander und lassen die Rollencharaktere sichtbar werden. Immer wieder dreht sich die Wartenummer sinnlos um, immer wieder kracht die Tasche auf den Boden, doch die Wartenden geben Schritt um Schritt etwas von sich preis – ein Liederabend mit Theater, ein Tanzabend mit Popmusik, irgendwas zwischen den Schubladen. Keine Zeigefinger-Sache, auch keine Sozialstudie oder ein tragisches Drama.

Der Wartesaal, so scheint es, hat keinen Ausgang. Aber das ist dann auch genug Symbolik für einen unterhaltsamen Abend.

’n Blick in der Stadt, Premiere am 26.Dezember, dann täglich (Silvester zwei Vorstellungen) bis 1.Januar im Grips-Theater, 2. Serie vom 22. Januar bis 9. Februar im BKA-Luftschloss. Info: www.staatspoperette.de

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