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Kirchhof der Gemeinden Jerusalem und Neue Kirche am Mehringdamm, Ecke Blücherstraße.

© Doris S. Klaas

Berlin: David Ackermann (Geb. 1975)

Am Abend Videos, später Techno und im Morgengrauen Karaoke.

Seine kleine Kreuzberger Ladenwohnung ist nun Schauplatz polizeilicher Ermittlungen. Taschenlampenkegel statt Buntlicht und Diskokugel. Keine Musik dringt mehr nach draußen. Die Party ist vorbei.

Ein Besucher hat David an einem Sommernachmittag gefunden, am Schreibtisch, kalt und tot. Die Tür war offen, wie so oft. Wann und warum er gestorben ist, wird die Obduktion klären.

Viele Türken wohnen in der Straße, die meisten dürften erleichtert sein: Er fand, das Leben müsse man doch feiern, immerzu. Jahrein, jahraus hat er die Straße beschallt, all den Ermahnungen, Beschimpfungen, Drohungen und Anzeigen zum Trotz. Als Schwuler, Kiffer und Hedonist blieb er den Nachbarn fremd und suspekt. Dass „die Schwuchtel“ auch noch türkische Partner hatte, machte sie wütend und aggressiv.

Die Naunynstraße, mitten in Kreuzberg 36: Wegen der türkischen Jugendgang „36 Boys“ schrieben die Zeitungen vor Jahren über die Gegend. Friedlicher geworden ist sie seitdem nicht. „Trinkteufel“ gegen „Naunynritze“. Punks, türkische Kids, Altlinke, Kulturvolk, Verrückte finden hier nur mit Polizei zueinander. Ein Kommen und Gehen. Es ist oft laut.

David war am lautesten. Vielleicht wollte er alle zusammenbringen. Nicht nur mit Musik. Nachts bohrte, klopfte und hobelte er. Arbeitete an seinem Ein-Zimmer-Reich. Es war ja nicht nur seins: ein Auffangbecken für alle, die den Tag nicht als Arbeitstag, sondern als Feiertag begreifen. Er hätte gerne einen richtigen Club eröffnet; so lange es nicht so weit war, lud er alle in die Wohnung ein. Das Hochbett über dem DJ-Pult, Lichterketten, bequeme Sitzgelegenheiten, alles bunt. Zwischenwände und Badewanne hatte er rausgerissen. Nun war da eine Art Wohnküche und die Verkleidung ums Klo aus Pappe.

Manchmal, wenn Geld da war, machte er Sushi. Wenn er welches brauchte, arbeitete er auf dem Bau, beim Catering oder in der Kneipe. Die Jobs nahm er immerhin so ernst, dass er sich seine zerkauten Fingernägel vor Arbeitsantritt bei einem chinesischen Nagelstudio herrichten ließ. Wenn das Geld selbst fürs Hundefutter nicht mehr reichte, halfen Freunde aus.

Irgendwann am Vormittag zog David die Jalousien hoch, dann war sein Reich eröffnet. Bei gutem Wetter dehnte er die Grenzen aus, stellte Stühle und Sessel auf die Straße und drehte die Musik noch lauter. In der Frühe waren es oft die melancholischen Klänge von The Cure. Die ersten Besucher fanden sich ein, tranken Bier oder Kaffee oder nichts – egal, war ja sowieso umsonst. Wer was mitbrachte, hatte mitgedacht. David und seine Gäste verweilten wie ihre Hunde im Hier und Jetzt.

Am Abend Seriengucken oder Videos, später Techno und im Morgengrauen Schnulzen oder Karaoke. Weder bei der Musikauswahl noch bei Menschen hatte David Berührungsängste, seine wachen Augen musterten die Gäste nicht abschätzend, sondern liebevoll. Einsamkeit konnte David ja nicht ertragen. Auch im Internet, via Facebook, suchte er nach Nähe.

Doch wirklich nah kam ihm warscheinlich niemand. Es blieb ein Teilen von Reizen, Räuschen, Vorlieben. Benutzeroberflächen. Vieles unausgesprochen. Seine individualistische Art zu leben, ohne Rücksicht auf Verluste, beeindruckte vor allem Jüngere. Sie sahen in ihm einen Rebellen, der allein nach dem Lustprinzip zu leben schien.

Natürlich hatte er Probleme. Auch wenn man sie dem bunten Hund nicht ansah. Die Toleranz seiner Umgebung sank. Mehrmals wurde bei ihm eingebrochen, die Übergriffe häuften sich. Jeder Gang konnte zum Spießrutenlauf werden. Mit seinem Aussehen, leicht geschminkt, knallrote Schirmmütze, T-Shirt in Grellorange, schwarze Jogginghose und Plateauschuhe, provozierte er die Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Natürlich wehrte er sich gegen die Attacken. Er war stark. Am Ende hatte außer ihm wenigstens einer der Angreifer ein dickes Auge.

Wenn er mit seinen Hunden unterwegs war, lernte er immer neue Leute kennen, die er zu sich einlud. Den Zufallsgästen erzählte er dann von seiner großen Liebe, einem jungen Mann, der so wunderbar über Lakritze erzählen konnte – David liebte Süßes. Oder er erzählte von den Psychopharmaka, die er nehmen musste. Von seiner geliebten Mutter, die so weit weg auf Rügen lebte. Das waren Zeichen: Es geht mir nicht nur gut! Aber wer Zeichen gibt, braucht Menschen, die sie auch verstehen. Viele hatten selbst seinen Namen schon an der nächsten Straßenecke vergessen. So blieb er allein in seinem Reich.

Die letzten Tage wurde es stiller auf der Straße, die Jalousien zog David erst am späten Nachmittag mühsam hoch. Er wirkte bedrückt, erschöpft. Warum, das kann wohl auch die Obduktion nicht klären. Sein liebevoll gestalteter Blumenkasten mit dem goldenen Kopf einer Schaufensterpuppe mitten drin wird bald vertrocknet sein. Die weiße Rose und die Sonnenblumen auf der Türschwelle auch. Freunde haben sie dort hingelegt. Die Feier ist vorbei, die Straße hat einen Menschen verloren. Aus dem Nachbarhaus fliegt eine Rakete in die Nacht. Sie weist David den Weg. Man hört ein Martinshorn.

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