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Berlin: DDR-Flüchtlinge hatten schlechte Karten

Das SED-Regime zensierte die Landkarten bis zur Unkenntlichkeit: Westwärts verloren sich namenlose Hauptstraßen im Nichts

„Falck-Pläne“, sagt Marianne Birthler, „waren uns immer willkommene Mitbringsel.“ Denn sie zeigten stets den Ost- und den Westteil Berlins und nicht nur graue Flächen. Was es im Osten an Karten gab, war derart ungenau, dass man von gezielter Fälschung sprechen müsse, so Roland Lucht von der Stasi-Behörde. Kartographie ist Herrschaftswissen – da wurden schon mal Sendemasten verschoben oder ganze Industriebetriebe getilgt.

Dass militärische Objekte in frei verkäuflichen Karten nicht oder nur schematisch auftauchen, war und ist in vielen Länden Praxis. Doch was am Freitag zum Abschluss eines von Dagmar Unverhau betreuten Forschungsprojektes bekannt wurde, lässt doch auf besondere deutsche Gründlichkeit und echten DDR-Geheimhaltungswahn schließen. „Auf Schulkarten der frühen 80er Jahre besteht West-Berlin aus der S-Bahn, die ja unter Ost-Verwaltung stand, und aus dem Sowjetischen Ehrenmal“, so der FU-Kartograph Wolfam Pobanz. Mehr gab es fürs Volk nicht, vor allem keine genauen Grenzverläufe oder Straßen: Fluchtwilligen sollte kein Material in die Hand gegeben werden.

Die DDR war durchaus in der Lage, hervorragende Landkarten herzustellen. Die „Ausgabe für den Staat“ (und damit exklusiv gefertigt für Verteidigungs- und Innenministerium sowie die Stasi) bewegte sich mit allen Details auf West-Niveau. Mit großem Aufwand wurde zusätzlich eine grob vereinfachte „Ausgabe für die Volkswirtschaft“ erstellt. Mit verändertem Koordinatensystem, Hauptstraßen, die plötzlich Feldwege waren und ohne Flughäfen oder Güterbahnhöfe.

„Aus überzogenem Sicherheitsdenken heraus“ habe man vor allem in der eigens eingerichteten „Linie Vermessungswesen“ beim Ministerium für Staatsssicherheit gehandelt, sagte Birthler gestern – und sie machte deutlich, dass sich diese Maßnahmen weniger gegen den Feind richteten als gegen die eigene Bevölkerung. Planung ohne exakte Karten war in der an Ressourcen knappen DDR pure Vergeudung. Statt der Lokomotivfabrik in Hennigsdorf konnte da durchaus nur eine graue Fläche ausgewiesen sein. Und bei Großziethen, kurz vor der Grenze zu West-Berlin, begann stufenweise die terra incognita mit immer weniger Wegen und namenlosen Straßen. Anderenorts gibt es Beispiele für getilgte oder erfundene Autobahn-Abfahren.

„Wir wussten ja, dass mit den Karten etwas nicht stimmt“, sagt Marianne Birthler. Sie erinnert sich an eine Kreuzung mit fünf verschiedene Wegen, doch die Wanderkarte aus dem „VEB Tourist Verlag“ zeigte nur deren zwei. Bevor die Karte fürs Volk gedruckt werden konnte, wurde sie zensiert. Ein Oberst Krödel aus dem DDR-Verteidigungsministerium schreibt 1975 an die „staatliche Geodätische und Kartographische Kontrolle“, „dass vor der Herausgabe noch die Entfernung einer Anzahl von Signaturen erforderlich ist.“ Kein Wunder, dass spätestens Mitte der 60er Jahre auf Straßen- und Wanderkarten auch der Vermerk am Rand entfällt, der Verlag sei für Verbesserungshinweise dankbar. „Die wollten nicht noch mehr kritische Post bekommen“, so Pobanz. Sein Dresdener Kollege Wolf Koch nickt und schüttelt dann den Kopf. Denn der „Gegner“ hatte seit Mitte der 70er Jahre dank Satellitenaufklärung ohnehin Karten, die so genau waren wie die geheimsten Karten der DDR. „Dieser Geheimhaltungswahn war absurd“, sagte dann auch Marianne Birther.

Wesentliche Ergebnisse der bisherigen wissenschaftlichen Forschung sind zusammengefasst in: Dagmar Unverhau (Hrsg.): „Kartenverfälschung als Folge übergroßer Geheimhaltung? Eine Annäherung an das Thema Einflussnahme der Staatssicherheit auf das Kartenwesen der DDR“. Münster 2002: Lit-Verlag. 19.90 Euro.

Jörg-Peter Rau

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