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DDR-Vergangenheit: Zelle der Angst

40 Jahre hatte seine Erinnerung geschwiegen, nichts schien mehr präsent zu sein von seiner Zeit im Stasiknast. Aber plötzlich kamen die Bilder der Vergangenheit zurück, wuchtig, qualvoll, obsessiv. Der Versuch einer Bewältigung.

Draußen scheint die Sonne, als Klaus Schulz-Ladegast in seinem Wohnzimmer in Berlin-Friedenau versucht, das Puzzle seiner Vergangenheit voranzubringen. Er geht leicht gebeugt. Die Hüfte. Seit Monaten quält sie den 68-Jährigen. Doch das ist jetzt vergessen. Es geht um Wichtigeres. Um seine Lebensgeschichte. Vielleicht erkennt er heute etwas, was ihm bisher nicht klar war. Er stellt eine Kanne Tee auf den Tisch.

Ein halbes Leben ist verstrichen, bevor er nach Hohenschönhausen zurückkehrte, erzählt er. Bis es ihn wieder dort hinzog, vor etwa fünf Jahren. Die Mauer war längst gefallen, die Berliner Stasi-Haftanstalt längst Gedenkstätte. Er hat nicht geahnt, was dort auf ihn zukommen würde.

Schulz-Ladegast war einer der etwa 20 000 Frauen und Männer, die als Oppositionelle oder Staatsfeinde der DDR in der Zeit zwischen 1951 und 1989 in dem Stasi-Gefängnis inhaftiert wurden. Untersuchungshaft, psychische Folter. Für Schulz-Ladegast war das Vierteljahr in Hohenschönhausen nur die erste Station. Drei Monate saß er dann in der Stasi-Zentrale in der Magdalenenstraße in Einzelhaft. Es folgten Zuchthaus in Rummelsburg, im sächsischen Waldheim und Torgau. Insgesamt drei Jahre und vier Monate hat er hinter DDR-Gittern verbracht.

Lange schien es so, als hätte der robuste Mann diese Zeit unbeschadet überstanden. Anders als bei den wohl meisten Stasi-Opfern schien sie nach seiner Entlassung im November 1964 keine Rolle mehr zu spielen. Schulz-Ladegast fand eine Frau, konnte mit ihr in einem präparierten Auto über die tschechische Grenze nach Österreich und schließlich in die Bundesrepublik flüchten – und startete in West-Berlin ein neues Leben. Er begann ein Studium, hielt sich mit verschiedenen Jobs über Wasser. Arbeitete als Chemielaborant, wurde Bildungsreferent am Gesamtdeutschen Institut, leitete ein Heim für körperlich und geistig Behinderte. Die erste Frau ging, neue kamen. Die Mutter seiner Kinder lernte er Anfang der 80er Jahre kennen. Mit ihr lebte er auf dem Land in Westdeutschland und züchtete Pferde. Nach der Wende wurde er dreimal Vater. „Ich habe ein ganz normales Leben geführt“, sagt er. Bis ihn seine Frau mit den Kindern nach mehr als 20 gemeinsamen Jahren verließ. Er wäre daran beinahe zerbrochen.

Schulz-Ladegast stand am Abgrund und blickte zurück, um wieder nach vorn sehen zu können. Er setzte sich ins Auto und besuchte die Orte seiner Vergangenheit. Er fuhr nach Waldheim, sah sich vom gegenüberliegenden Berg aus das Zuchthaus an, in dem er sich eine kleine Zelle mit drei anderen Häftlingen geteilt und in der Werkstatt Elektromotoren zusammengeschraubt hatte. Er fuhr nach Fort Zinna im sächsischen Torgau, das heute ein Dokumentationszentrum ist, und besuchte die Stasi-Zentrale in der Berliner Magdalenenstraße. Doch all diese Orte blieben ihm fremd. Als hätten sie nichts mit ihm zu tun. Bis er nach Hohenschönhausen kam. Und das Gefängnis zum zweiten Mal sein Leben veränderte.

Der Ex-Häftling ging durch die Eingangsschleuse auf den Hof. Er konnte sich nur noch an den Raum mit den Gittern erinnern, erzählt Schulz-Ladegast. Bei seiner Einlieferung hatten sie ihn dort gezwungen, Häftlingskleider anzuziehen. Er wanderte durch die Gebäude, irrte durch die Flure. Nichts, woran er sich erinnerte. Die Tür, die zum Freigang in den Hof führte, erkannte er nicht. Doch dann trugen ihn seine Beine plötzlich in den dritten Stock, und auf einmal fand er sich in seiner alten Zelle wieder, in dem schmalen Raum mit den zwei Betten und dem Schrank.

„Es roch zwar anders, der Boden in der Zelle war neu“, sagt er. Doch es erwischte ihn kalt. Plötzlich kamen die Erinnerungen. Und er war wieder der Häftling, fühlte, wie er sich als Häftling gefühlt hatte. Schulz-Ladegast sah den lange vergessenen Zellennachbarn vor sich, der ihm beigebracht hatte, wie man an einem solchen Ort überlebt. Wie automatisch nahm er die Stellung ein, die die Wächter ihm eingetrichtert hatten, wenn er zum Verhör geführt wurde: Hände auf dem Rücken, das Gesicht zur Wand, die Beine gespreizt.

Seit diesem Tag vor fünf Jahren haben sich immer mehr Bilder von der Haft aus der Tiefe nach oben geschoben. Schicht für Schicht. Bis ganze Filme daraus geworden sind, die Szene für Szene danach drängten, zusammengesetzt zu werden. Anfangs half er noch nach. Als Zeitzeuge hat der Ex-Häftling durch die Gedenkstätte geführt – und dabei die Mauer, hinter der seine Erinnerungen so lange im Verborgenen lagen, Stück für Stück eingerissen.

Er brachte die Besucher in seine Zelle und schloss die Augen, um sich besser einzufühlen, erzählt er. Es war, als drückte er einen Knopf, und der Film lief vor seinem inneren Auge ab. Die ganze Nacht brannte das Licht, begann er dann. Das Schlafen war nur auf dem Rücken erlaubt. Die Wärter waren immer präsent und schlugen drohend gegen die Tür, wenn sich ein Häftling auf die Seite drehte. Er erklärte den Besuchern, dass die Stasi in den 50er Jahren vor allem körperlich folterte, dass die Häftlinge damals in Gesicht und Magen geschlagen wurden. Während man in den 60er Jahren zu psychischer Folter überging und sie mit Schlafentzug und stundenlangem Stehen, quälenden Befragungen, angeblichen Briefen von Angehörigen und Falschaussagen über Lebensgefährten, Familie und Freunde mürbe machte.

An manchen Tagen hat er vier Besuchergruppen durch die Gedenkstätte geführt. Viermal am Tag war er dann wieder der Gefangene im Stasi-Knast, der verhört und gefoltert wird. Nach ein paar Monaten verlor Schulz-Ladegast die Kontrolle. Sein ganzes Leben drehte sich nur noch um damals. Nach den Führungen setzte er sich zu Hause an den Schreibtisch und hämmerte seine Erinnerungen in den Computer. Bis in die Nacht. Dann legte er sich ein paar Stunden aufs Bett. Am nächsten Morgen machte er sich wieder auf den Weg nach Hohenschönhausen. Nach fast zwei Jahren war er ausgebrannt. „In dieser Zeit war ich kein Mensch“, sagt er.

Was Schulz-Ladegast erlebt hat, ist in der Psychologie bekannt. „Es ist kein unübliches Phänomen, dass psychische Traumafolgestörungen nach langer Zeit ganz plötzlich wieder akut werden“, sagt Psychiater Ferdinand Hänel vom Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer. Die Anlässe sind oft gering. Ein Geruch. Ein Gegenstand. Ein Bericht über Stasi-Verfolgung im Fernsehen. Einmal wieder nach oben gespült, ist die Vergangenheit plötzlich wieder präsent.

Irgendwann hat Schulz-Ladegast mit dem Leiter der Gedenkstätte, Hubertus Knabe, Streit bekommen. Auch wegen der nachträglich eingebauten Wasserzelle, in der man angeblich Häftlinge mürbe machen wollte, indem man ihnen aus einer Schüssel stetig Wasser auf den Kopf tropfen ließ. Eine solche Zelle habe es aber in Hohenschönhausen nie gegeben, sagt er. Bei dem Thema wird er auch heute noch laut, spricht von einer Disneyland-Erinnerungskultur. Er weigerte sich, den Besuchern die Zelle zu zeigen. Und musste gehen.

Der Leiter, Hubertus Knabe, will sich zu dem Streit von damals nicht äußern. Er schätze Schulz-Ladegast sehr. „Er war sehr engagiert und verstand es, die Besucher für DDR-Geschichte zu interessieren“, lobt er den ehemaligen Mitarbeiter. Doch die Zusammenarbeit sei nicht mehr möglich gewesen. „Der Ort hat den ehemaligen Häftling zu sehr aufgewühlt. Er war von seinem eigenen Schicksal gebannt und hat den Blick für das Ganze verloren“, sagt Knabe. „Es war an der Zeit zu gehen“, sagt Schulz-Ladegast.

Inzwischen hat er angefangen, sich ein neues Leben aufzubauen. Hat wieder eine Frau kennengelernt, ist zu ihr nach Friedenau gezogen. Er hat seine Bücher ordentlich in die Regale gestellt, trinkt Tee aus chinesischem Porzellan. Er habe das Schlimmste hinter sich, sagt er. Er wird nachts nicht mehr so oft wach, träumt nur noch hin und wieder von der Haft. Dennoch lässt ihn die Vergangenheit nicht los. Sie bestimmt seinen Alltag. Im Arbeitszimmer türmen sich Stasi-Akten.

„Er hat es sehr schwer gehabt“, sagt Hubertus Knabe. Er sei noch sehr jung gewesen, als er inhaftiert wurde. Schulz-Ladegast war 20, als sie ihn am 19. August 1961 abholten.

„Ich war damals nicht politisch, weit entfernt davon, ein Oppositioneller zu sein. Nur jung und lebenshungrig“, sagt er. Er ist in die Situation mehr oder weniger hineingerutscht, als er abenteuerlustig zwischen den Welten hin- und herpendelte. Seine Familie lebte im Osten, er wohnte in einem Schülerwohnheim im Westen, ging in Dahlem aufs Gymnasium.

Der junge Schulz-Ladegast nahm es nicht besonders ernst, als plötzlich ein Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) an der Wohnheimtür klopfte und unter einem Vorwand den Kontakt zu seinem kirchlich engagierten und auch sonst nicht gerade linientreuen Vater suchte. Er ahnte nicht, dass ihm bald darauf die Staatssicherheit der DDR auf der Spur sein würde. Dass es dann nicht mehr lange dauern sollte, bis der Vater als BND-Spion enttarnt und verhaftet wurde – und der Sohn gleich mit. Es ging alles ganz schnell. „Wir hatten keine Chance, uns gegenseitig zu warnen“, erzählt Schulz-Ladegast.

Die Stasi-Männer holten ihn aus der Fabrik in Adlershof ab, in der er inzwischen als Chemielaborant arbeitete. Sie zogen ihm einen Sack über den Kopf, drängten ihn ins Auto und brachten ihn nach Hohenschönhausen. 13 Stunden haben sie ihn beim ersten Mal verhört, hat er in seiner Stasi-Akte nachgelesen. Erinnern kann er sich bis heute nur an die ersten 20 Minuten. Die Inhaftierung kam völlig unerwartet. Ein paar Tage vorher hatte Schulz-Ladegast Ringe für die Verlobung mit seiner Freundin gekauft.

Der Sohn hat mit dem Vater nie geredet über das, was passiert ist. Als der Vater, der noch vor dem Sohn amnestiert wurde, Schulz-Ladegast in der Haft besuchte, konnten sie nur gemeinsam schweigen. Auch als der Sohn aus Torgau entlassen wurde und zu seiner Familie nach Berlin zurückkehrte, kam es zu keinem Gespräch. Das Thema blieb ein Tabu. Jetzt ist es zu spät, daran zu rütteln. Anfang der 80er Jahre verstarb der Vater an Krebs.

Es vergeht heute kaum ein Tag, an dem der Rentner sich nicht an seinen Schreibtisch setzt und sich durch StasiAkten und Vernehmungsprotokolle arbeitet. Nach wie vor tippt er seine Erlebnisse in den Computer. Wird ein neues Buch oder ein Film über Stasi-Verfolgung und Geheimdienste vorgestellt, findet dazu eine Podiumsdiskussion oder ein Vortrag statt, sitzt er in der ersten Reihe. Auch bei dem Eklat im März 2006 bei einer Veranstaltung in der Gedenkstätte war er dabei. Ehemalige Offiziere und Stasi-Funktionäre wie Wolfgang Schwanitz und der frühere Leiter der Haftanstalt Siegfried Rataizik hatten Misshandlungen von Häftlingen abgestritten und die Schilderungen ehemaliger Inhaftierter über die Zustände in Hohenschönhausen angezweifelt. Schulz-Ladegast kann darüber nur den Kopf schütteln. Dabei will er alles andere als schwarzweiß malen.

Um sein Puzzle zu vervollständigen, hat er sogar versucht, mit seinen Vernehmern Kontakt aufzunehmen. Doch ohne Erfolg. Einer ist verstorben, einer war nicht an einem Austausch interessiert, und ein dritter fühlte sich zu schwach, weil er unter Asthma leidet, erzählt er. Trotzdem ist es ihm inzwischen gelungen, sich der anderen Seite zu nähern.

Es war Zufall, dass er auf den Mann stieß, der ihn und seinen Vater hinter Gitter gebracht hat. Schulz-Ladegast las von einem Vortrag, den ein Stasi-Oberst zum Thema Feindbilder des Ministeriums für Staatssicherheit gehalten hatte. Er erkundigte sich nach der Telefonnummer des Referenten und fand heraus, dass dessen Name nicht nur in der Akte seines Vaters auftauchte, sondern auch unter seinem eigenen Verhaftungsbefehl stand. „Ich wollte den kennenlernen, der dahintersteckt“, sagt Schulz-Ladegast.

Warum sich der Ex-Stasi-Mann auf das Treffen einließ, kann er nur vermuten. Beim ersten Mal, als sie sich in einem Café sahen, sei es vielleicht Neugier gewesen. Inzwischen besuchen sich die beiden Rentner regelmäßig zu Hause, und für Schulz-Ladegast fühlt es sich so an, als erleichtere es den Oberst, mit ihm über früher reden zu können.

Erst kürzlich saß ihm der Oberst wieder auf dem blauen Sofa vor dem Fenster gegenüber, erzählt er. Die einstigen Kontrahenten tranken Tee, sprachen über die DDR, den Kommunismus, ihre Erinnerungen. Zum Abschied hat sich der Gast für das Gespräch bedankt.

Auch wenn Schulz-Ladegast immer wieder die Wut packt, weil die Politik nicht daran interessiert ist, die Verwobenheit der Geschichte im Osten mit der im Westen aufzuarbeiten; auch wenn er sich laut darüber aufregt, wenn wieder einmal ein Stasi-Verbrecher vor Gericht unbestraft davonkommt und in Wohlstand seinen Lebensabend verbringt – während er mit einer kleinen Rente auskommen muss: Der ehemalige Häftling hadert nicht mit seinem Schicksal. Er geht zwar leicht gebeugt, wegen der Hüfte. Innerlich aber fühlt er sich aufrecht.

Heute kann sich Schulz-Ladegast kaum noch vorstellen, wie es in den 40 Jahren war, als er ohne seine Erinnerung gelebt hat. Er habe sich in der Zeit vor seiner Rückkehr nach Hohenschönhausen nicht an den Mann erinnert, mit dem er in der U-Haft die Zelle geteilt hat. Nicht einmal mit seiner Frau hat er damals über die Zeit geredet. Nur manchmal, in Albträumen, kam die Vergangenheit vor.

Noch gibt es wenige Fälle wie den von Schulz-Ladegast. Doch es könnten in Zukunft mehr werden, sagt Psychiater Hänel, wenn die in den 70er und 80er Jahren in Stasi-Gefängnissen Inhaftierten in Rente gehen. „Viele Menschen aus der ehemaligen DDR laufen heute mit unverarbeiteten Foltererfahrungen durch die Welt.“ Irgendwann drängen sich ihre Traumata vielleicht an die Oberfläche.

Schulz-Ladegast wird bis dahin das Bild seiner Vergangenheit wohl ein Stück weiter zusammengesetzt haben.

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